Der Klassenfeind schläft nicht. Er ruht nur manchmal ein paar Monate. Wie so ein Bär vielleicht. Obwohl Bären ja eher das Symbol der anderen Seite sind? Ist ja auch egal. Viel Spaß mit dem neuen Kapitel!
Was bisher geschah
Im ersten Kapitel begleiteten wir Professor Rodney Advani zu einem Besuch bei Präsidentin Sima, um mit ihr über eine bedrohliche Entdeckung zu reden, lernten Kapitänin Tisha kennen, die ebenfalls gerade eine solche gemacht hat und dafür von Jeanne auf der Brücke eingeschlossen wurde, sahen Banja bei einer nicht sehr glücklichen Prüfung für seine Arbeit als Tinker zu, und wurden Zeuge, wie Jahre später Jole und Kentub darüber beraten, wie sie mit den aktuellen Erkenntnissen über den Planeten umgehen, der das Ziel ihrer Mission sein sollte.
Im zweiten Kapitel hat Piedra zunächst einen Unfall bei einem Außeneinsatz und führt dann ein schwieriges Gespräch mit Psmith, und die Präsidentin entscheidet, die Idee einer KI zur Kontrolle der Mission weiter zu verfolgen.
Im dritten Kapitel debattiert der Besatzung der Humanity über die Vor- und Nachteile einer Landung auf Last Hope versus derer eines Weiterflugs zu einer anderen wirklich allerletzten Hoffnung, Piedra versucht vergeblich, mit Wu über ihren Verdacht gegen Smith zu reden und wendet sich deshalb an Tisha, die gerade gar keine Lust hat, mit so etwas behelligt zu werden, und im Übrigen ist Senator Bowman der Meinung, dass der Planemo vernichtet werden muss.
Im vierten Kapitel wimelt Tisha Piedra ab und sieht mit Jeanne zusammen ein Video von unfassbarer historischer Bedeutung, Nico und Banya fachsimpeln über die Erde und bekommen Besuch von Piedra, und in unserer Zeit versucht Jerry Martinez, die ihn ihre KI gesetzten Erwartungen zu dämpfen.
Im fünften Kapitel folgt Jeanne Kentubs Empfehlung, Tisha will dem Ruf der Natur eigentlich nicht folgen, und Piedra versucht vergeblich, Banya ihren Verdacht gegen Psmith zu erklären.
Im sechsten Kapitel gerät Piedra mit Psmith aneinander, Kentub und Jeanne mit Marchand, und Rodney mit Jerry Martinez.
Im siebten Kapitel verhört Jeanne erst Piedra und dann Tisha, Kentub und Jeanne gehen zu dem Fremden, und Jerry und Rodney diskutieren über die Rettung der Menschheit.
Im achten Kapitel verkündet Jeanne in einer Teambesprechung einige wichtige Neuigkeiten, Kentub versucht, mit dem Fremden zu diskutieren, und Jeanne ernennt ihn zum neuen Kapitän.
Im neunten Kapitel streitet sich Banja zuerst mit Piedra und sagt dann seinem Vater, dass er sie nicht will. Kentub hält das für keine gute Idee.
Später versucht Kentub, die Kampfhandlungen zwischen den verfeideten Fraktionen an Bord der Humanity zu beenden indem er Marchant seine Position nahebringt, während auf Last Hope die Dienerinnen des Ersten Staates von einem neuen Stern erfahren.
Im zehnten Kapitel verbünden Tisha und Piedra sich gegen Psmith, um dann von ihm überrascht zu werden (also, nicht in dem Sinne, das sie sich dafür verbündet haben… Ihr wisst schon. Ja, das ist eine blöde Formulierung. Ich gewöhn sie mir ab.), Rodney besucht die Einrichtung, in der die Kinder für die lange Reise vorbereitet werden, Banja meldet sich freiwillig, und Kentub ringt mit den Konsequenzen seiner Entscheidung.
Im elften Kapitel verabschiedet Banja sich von Nico, Kentub betritt Last Hope, und Rodney lernt Celia kennen.
Im zwölften Kapitel redet Psmith mit Tisha und Piedra, Kentub begegnet Jeanne auf Last Hope, seine Transportgelegenheit verstirbt, und Präsidentin Sima gibt ein Interview.
Im dreizehnten Kapitel sehen wir die Ereignisse zwischen Kentub und Marchant noch einmal aus Marchants Perspektive, Marchant rettet ihn auf Last Hope, und Psmith erklärt weiter seinen diabolischen Plan. Der Schuft.
Im vierzehnten Kapitel berät die Präsidentin über Methoden zur Konservation der Besatzung, Marchant und Kentub reiten auf Jeanne über Last Hope und werden verfolgt, und Psmith wird endlich fertig damit, seinen diabolischen Plan zu erklären. Der Schuft.
Im fünfzehnten Kapitel macht Jeanne der Besatzung eine Ansage, und Kentub und Tisha beraten anschließend mit ihr, wie sie die umsetzen, und in der weiteren Zukunft führen die fremden Kreaturen Jeanne, Kentub und Marchant in die Dunkelheit.
Was heute geschieht
17.76.149
„Ist hier nicht genau so ein guter Ort wie jeder andere? Es ist eine Eiswüste.“
Jole seufzte, versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie geseufzt hatte, und sah sich um.
Das Basiscamp der Siedlung war mobil. Aber es bedeutete einen erheblichen Aufwand, es zu verlegen. Und sie hatten von keiner Art Ressourcen genug, um Risiken einzugehen.
„Hier ist nichts. Wir müssen zumindest versuchen, einen besseren Ort zu finden, bevor wir uns festlegen. Und wir sollten warten, bis der Kapitän und Jeanne dabei sind!“
„Wie kommst du darauf, dass sie überhaupt wieder kommen? Vielleicht ist ihre Kapsel verunglückt, oder sie haben es gar nicht erst geschafft.“
„Außerdem: Brauchen wir wirklich eine Maschine, um unsere Entscheidungen für uns zu treffen? Jeanne versteht nicht einmal, wofür das alles hier gut ist!“
Jole tat ihr Bestes, ruhig weiter zu atmen und nicht die Augen zu verdrehen. Sie hatte so sehr genug von diesen Streitereien. Wenn sie die Entscheidung hätte treffen dürfen, hätte sie Marchant und seine seine Truppe alles behalten lassen, was von dem Schiff übrig war, und dann versucht, mit dem verbliebenen Dutzend zu siedeln.
Wen kümmerten genetische Vielfalt und zukünftige Generationen? Sie hatten alle genug als Gefäße der menschlichen Zukunft zu existieren. Sie hatten ein Recht zu leben.
Und wenn das verdächtig nach Marchants Philosophie klang, was war schon dabei? Sie hatte nie behauptet, aus eisernem Verantwortungsbewusstsein und Pflichtgefühl auf Kentubs Seite zu stehen. Es ging nur um die Frage, mit wem sie lieber den Rest ihres Lebens in enger Gemeinschaft leben wollte.
„Wir brauchen vor allem Disziplin und Zusammenhalt“, sagte sie, „Und einen Weg, Entscheidungen zu treffen! Wir sind 27 Menschen auf einem Eisplaneten. Wir können uns keine Konflikte und endlosen Streitereien leisten!“
„Und deshalb müssen wir alle machen, was du für richtig hältst?“
Jetzt verdrehte sie doch die Augen.
„Deshalb brauchen wir Jeanne, oder zumindest Kentub, und falls sie wirklich nicht wieder auftauchen, jemand anderen, der am Ende die Entscheidung trifft.“
„Wir können doch auch abstimmen! Warum brauchen wir überhaupt noch einen Kapitän? Wir haben nicht mal mehr ein Schiff!“
„Genau deshalb! Wir haben nie so sehr eine klare Führungsstruktur gebraucht wie jetzt. Genau das jetzt gerade ist der empfindlichste, fragilste Punkt in unserer Mission. Eine grundlegende Wende, in der wir nicht mehr physisch gezwungen sind, ein Team zu bilden, in einer Zeit, in der wir nach einer gewalttätigen Auseinandersetzung gespalten sind wie keine Besatzung mehr seit dem Konflikt von 97! Wir mögen gelandet sein, aber wir haben es noch lange nicht geschafft! Wir können gemeinsam eine Zivilisation begründen, oder alleine erfrieren!“
Na gut, vielleicht war da ein bisschen der Pathos mit ihr durchgegangen. Sie dachte kurz darüber nach, was sie vor diesem Hintergrund von der Perspektive hielt, dass dieser Moment sich tatsächlich als ein historischer erweisen und zukünftige Generationen Aufzeichnungen der Diskussion studieren würden, die zu einer Grundsatzentscheidung über den Fortbestand der Menschheit geführt hatte. Aber da das nur passieren konnte, wenn die Siedlung fortbestand, und mit ihr die Menschheit, gelang es ihr nicht, diese Aussicht beängstigend zu finden.
„Und gerade deshalb brauchen wir jetzt nicht eine Person, die zufällig den richtigen Hut aufhat, sondern eine gemeinsame Entscheidung, eine vernünftige Struktur, eine Grundlage für die zukünftige Zivilisation, die über Gehorsam aus Tradition hinausgeht!“
Jole hob beide Hände auf Schulterhöhe und faltete sie dann hilflos vor sich, als ihr klar wurde, dass es ihrer Überzeugungskraft nicht helfen würde, wenn sie so aussah, als wollte sie die anderen erwürgen. Als ihr klar wurde, dass sie nun stattdessen so aussah, als würde sie beten, ließ sie die Hände wieder ganz sinken und kam sich sehr dumm vor.
„Ich … Ja, natürlich! Aber genau dafür gibt es doch ein Verfahren, das schon lange festgelegt ist, und über das Leute, die viel mehr Erfahrung mit so etwas haben als wir alle, lange nachgedacht haben! Warum sollten wir das jetzt alles wegwerfen, nur um eine halbe Stunde früher eine Entscheidung treffen zu können?“
„Um eine menschliche Entscheidung zu treffen, ohne die starren Regeln und die ständige implizite Drohung von Jeanne im Hintergrund? Um endlich zum ersten Mal in unserem Leben sagen zu können, was wir denken, ohne dass die Maschine zuhört, die entscheidet, was wir essen, was unsere Arbeit ist, wann wir schlafen und mit wem wir Kinder zeugen?“
Jole musste zugeben, dass das nicht ganz von der Hand zu weisen war. Zumindest nicht, ohne zu sagen, dass sie gerade nach den Ereignissen der letzten Tage und Wochen Jeannes Urteilsvermögen mehr traute als dem der Menschen um sie herum. Und sie befürchtete, dass das bei ihrem Publikum nicht gut ankommen würde.
15.39.97
Tisha fühlte sich schlecht, niederträchtig und egoistisch, aber sie glaubte, das richtige zu tun, und diese Gefühle deshalb überwinden zu müssen, während sie Jeanne erklärte, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
„Du hast einen Fehler gemacht, Jeanne“, sagte sie, weil ihr das ein guter erster Schritt zu sein schien.
„Welchen meinen Sie?“ fragte die Maschine.
Immer noch kein schlechter Anfang. Aber der heikle Teil kam ja auch erst noch.
„Ich meine Kentub. Er ist nicht als Kapitän geeignet. Er nimmt die Mission nicht ernst. Er nimmt seine Verantwortung nicht ernst. Er nimmt nichts ernst. Und die Humanity hat noch nie so dringend starke Führung gebraucht wie jetzt! Ich sage nicht, dass ich die unbedingt liefern muss, aber er kann es auf keinen Fall. Wir sind in der größten Krise, die diese Mission je erlebt hat, und unser Kapitän ist ein Clown. Bitte denk darüber noch mal nach, Jeanne!“
„Ich habe Ihre Einwände antizipiert und sehe keine Basis für eine neue Bewertung der Situation. Dennoch danke ich Ihnen für Ihr Feedback. Ihre Offenheit ist wichtig für den Erfolg dieser Mission.“
„Ich verstehe nicht-“
„Das ist akzeptabel.“
„Jeanne, es geht mir hier nicht darum, dass ich wieder Kapitänin sein will, es geht mir um die Mission uns unser aller Überleben, und ich bitte dich- Jeanne? Jeanne, was soll das?“
Die Maschine hatte sich in Bewegung gesetzt, auf die Tür zu.
„Jeanne, lass uns doch wenigstens-“
„Dieses Gespräch ist beendet“, sagte Jeanne in ihrer stets ruhig-sachlichen Stimme, während sie durch die geöffnete Tür stakste. „Sollten Sie noch über neue Informationen verfügen, teilen Sie mir diese gerne später mit, nachdem ich einen akuten Notfall bearbeitet habe.“
Die Tür schloss sich hinter Jeanne, und Tisha starrte ihr mit offenem Mund nach, während sie den letzten Satz verarbeitete.
„Oh“, sagte sie.
Und dann wusste sie auch nicht, was sie jetzt tun sollte.
18.76.149
„Es ist sehr dunkel hier unten.“
„Ich hatte darauf gewartet, dass du so etwas sagst.“
„Der Fremde hat ganz sicher was mit deinem Sinn für Humor gemacht, aber er ist nicht rechtzeitig ganz fertig geworden, oder?“
„Was hättest du an meiner Stelle gesagt?“
„Hm. Vielleicht ‚Ich hatte mich schon gefragt, warum ich so wenig sehe.‘?“
„Wäre das lustiger gewesen?“
„Wenn ich noch mal drüber nachdenken … Jeanne, was meinst du?“
Die Maschine antwortete nicht.
„Aber du kannst noch genug sehen? Wir wissen nicht, wie diese Kreaturen es deuten würden, wenn du versehentlich über eine von ihnen stolperst.“
„Ich kann den Abstand zu den Tieren mittels Radar-, Infrarot- und Schwingungssensoren akkurat genug überwachen, um unbeabsichtigten Kontakt auszuschließen und gegebenenfalls beabsichtigten Kontakt zielgerichtet und wirkungsvoll sicherzustellen.“
„Ich fühle mich tatsächlich besser.
„Dies ist eine meiner Funktionen im Rahmen dieser Mission.“
„Ich glaube, du könntest noch ein bisschen üben.“
„Ich stimme dieser Einschätzung zu.“
Einige Sekunden schwieg Kentub und lauschte Jeannes Motoren, dem Knirschen des Eises unter ihren Titanbeinen und den raschelnd-klackenden Lauten der Hunderten, wenn nicht Tausenden von übergroßen Insektenbeinen, die sie umgaben und zu ihrem unbekannten Ziel leiteten.
„Glaubst du, sie bringen uns zur Königin?“ fragte er.
„Warum sollten sie?“ fragte Marchant zurück.
Kentub dachte nach. So ungern er es zugab, Marchant hatte Recht. Die Königin einer irdischen Insektenkolonie war das einzige fortpflanzungsfähige Weibchen. Sie war weder klüger als die anderen, noch war sie die Sprecherin. Er war einem Klischee erlegen. Aber er gönnte Marchant den Triumph nicht, wie unbedeutend auch immer.
„Ich meinte natürlich nicht unbedingt die Königin im engeren Sinne. Aber es wäre doch naheliegend, wenn sie uns zu einem … Mitglied ihrer Gemeinschaft brächten, das mit uns kommunizieren könnte? So etwas könnte es hier durchaus geben, es muss nicht einmal die gleiche Funktion für die Fortpflanzung haben wie in irdischen Insektenstaaten. Es ist doch gar nicht gesagt, dass diese riesigen Kreaturen in jeder Hinsicht den irdischen Ja schon gut, ich gebs zu, es war Blödsinn. Wir haben keine Grundlage, um irgendetwas zu mutmaßen.“
Das Schweigen erstreckte sich diesmal über eine Zeit, die Kentub sehr lang vorkam, also sicherlich mindestens fünf Minuten betragen haben musste, bis Jeanne stehen blieb.
Kentub fragte: „Warum sind wir stehen geblieben?“
„Ich bin stehen geblieben, weil der Schwarm stehen geblieben ist. Mir ist nicht bekannt, warum der Schwarm stehen geblieben ist Korrektur ich habe nun eine Vermutung, warum der Schwarm stehen geblieben ist.“
Ein vielfaches, raunendes Klicken und Klacken ging durch die Eishöhle – dem Echo nach waren sie nicht mehr in einem engen Gang –, als die riesigen termitenähnlichen Kreaturen sich bewegten. In Kentubs Kopf klang es, als würde sie für etwas Platz machen, aber er wies sich streng darauf hin, dass das eine völlig unbegründete Mutmaßung genau der Art war, wie er sie gerade gegenüber Marchant als sinnlos eingestanden hatte.
„Möchtest du uns an deiner Vermutung teilhalben lassen?“ fragte er, so gelassen er konnte.
„Die Wesen weichen vor einem mutmaßlichen Artgenossen zurück.“
„Du willst uns doch ärgern, oder? Beschreib ihn bitte!“
Jetzt hörte er auch das Klicken, das näher kam. Es klang … anders als das der anderen. Langsamer. Schwerer.
Na gut, dachte Kentub. Eigentlich egal. Ob die Monstertermite nun drei Meter lang ist oder acht, macht dann auch keinen Unterschied mehr.
Aber dass das Geräusch näher kam, das war nicht egal. Das machte einen Unterschied.
„Sieht das Ding gefährlich aus?“ fragte er.
„Es ist größer als die anderen“, antwortete Jeanne, natürlich ganz ruhig und sachlich, als ginge sich das alles gar nichts an. „Dabei aber erheblich schlanker. Ich sehe kein Anzeichen für eine Bedrohung Korrektur ich sehe nun ein Anzeichen für eine Bedrohung.“
Kentub war nicht stolz auf das Geräusch, das er gemacht hatte, als Marchant von seinem Platz hinter ihm verschwunden war, auch wenn ihm rein intellektuell bewusst war, dass es niemand gehört hatte, vor dem es Sinn ergab, sich zu schämen.
Andererseits, wann ergab das schon jemals wirklich Sinn?
„Marchant? Ist alles in Ordnung mit dir?“
„Er ist tot, Kapitän.“
„Ich weiß, aber ist alles in Ordnung mit ihm?“
„Ich stelle klar: Marchants Körper ist zerstört worden. Die Kreatur hat ihn mit ihren Mandibeln in Stücke zerteilt und verschluckt.“
„Das klingt nach dem richtigen Zeitpunkt für eine Eskalation. Sind deine Geschütze bereit?“
„Negativ. Ich sehe kein Anzeichen für eine Bedrohung.“
„WAS?“
Jeanne drehte sich um.
Kentub hörte um sich herum wieder das raschelnde Klacken.
„Was machst du da? Was machen die? Jeanne, wenn mich jetzt auch jemand frisst, verzeihe ich dir das nie!““
„Die Kreaturen führen uns zurück.“
„Woran erkennst du das?“
„Sie haben sich in die Richtung gedreht, aus der wir gekommen sind, und sich langsam in Bewegung gesetzt. Ich folge ihrer Bewegung.“
Er spürte Jeannes Schritte.
„Das zweite Aufeinandertreffen zwischen uns und einer außerirdischen Rasse, und es ist tatsächlich noch schlechter gelaufen als das erste. Hoffentlich ist das kein Trend, sonst wird es nie ein viertes geben.“
„Ich bin von Ihrer Einschätzung noch nicht überzeugt.“
„Jeanne, sie haben Marchant gefressen!“
„Ich habe es gesehen, Kapitän, Sie wissen es von mir.“
„Wie hätte es noch schlechter laufen können nein schon gut antworte nicht, ich weiß schon, was du sagen würdest.“
„Er war ohnehin schon tot. Weil Sie ihn erstochen haben, falls es Ihnen entfallen sein sollte.“
„Was mich auf einen ganz neuen Gedanken bringt: Glaubst du, der Fremde wird jetzt gegen die Termiten zurückschlagen? Haben wir gerade einen Inter-Spezies-Krieg ausgelöst?“
„Mir fehlen hinreichende Daten für eine solide Einschätzung, aber ich nehme an, dass er den Vorfall nicht zugelassen hätte, wenn er nicht mit seinen Plänen kompatibel wäre.“
Kentub schwieg für eine Weile.
„Du meinst, er hat das von Anfang an so beabsichtigt?“
Jetzt, da er darüber nachdachte, kam es ihm plötzlich auch sehr plausibel vor.
15.39.97
„Ihr habt die Fackeln und Gartengeräte vergessen.“
Kentub überlegte kurz, ob er aufstehen sollte, um ein bisschen imponierender zu wirken, oder lieber sitzenbleiben, um zu verdeutlichen, wie wenig beeindruckt er von diesem albernen Aufmarsch aus sieben Mitgliedern der Besatzung war. Sie wurden augenscheinlich angeführt von Haniba, deshalb traute er sich zu, zu wissen, was sie von ihm wollten, auch wenn er nicht von allen sieben gewusst hätte, dass sie zu Psmiths Verschwörungskult gehörten.
Und falls er noch Zweifel gehabt hatte, beseitigte Batu sie sogleich.
„Wir verlangen Psmiths Freilassung!“
Kentub nickte müde.
„Natürlich tut ihr das.“
Er blickte zu der Gruppe auf und schaute möglichst gleichmäßig verteilt Haniba und Batu ins Gesicht.
„Psmith hat den Wasserkreislauf des Schiffes vergiftet. Das ist ziemlich genau das schlimmste, was ein Besatzungsmitglied tun kann, oder zumindest so nah dran, dass es keinen großen Unterschied macht. Er hat versucht, uns alle umzubringen, und wir können noch nicht ausschließen, dass er es am Ende schafft.“
„Hat er nicht!“ widersprach Haniba. „Er hat lediglich den letzten Schritt zu unser aller
Befreiung getan! Er wird uns allen zeigen, dass wir in einer Illusion aufgewachsen sind, und wie wir unseren Weg daraus heraus finden, indem er uns keine Wahl lässt, als uns der Wahrheit zu stellen!“
Kentub blinzelte sie an.
„Das ergibt doch nicht einmal im Rahmen eurer abstrusen Vorstellungen Sinn! Sogar wenn wir in Wahrheit gar nicht in einem Raumschiff sind, sterben wir, wenn wir das vergiftete Wasser trinken und verdursten, wenn nicht!“
„Die Versuchsleitung wird das Experiment beenden, wenn ihnen klar wird, dass es keine Chance mehr hat! Und wenn sie es nicht tun, dann werden wir selbst einen Ausweg finden, weil wir keine andere Chance haben! Und wenn wir das nicht schaffen, dann haben wir immer noch einen Ausweg gefunden, und unsere einzige Chance!“
„Ich habe so einen Verdacht, dass du dir die Antwort vorher irgendwo aufgeschrieben und dann auswendig gelernt hast …?“
„Verspotte uns nur, Kentub!“ Noch während sie sprach, drehte sie sich zum Rest der Gruppe um und machte eine Geste, die mutmaßlich so etwas wie ‚Seht ihr? Was habe ich gesagt? Wir sind ihnen völlig egal!‘ sagen sollte.
Kentub war sich sehr bewusst, dass er kein großer Diplomat war, und dass er, falls die Situation eskalierte, Jeanne in der Nähe haben wollte. Aber er war sich ebenfalls sehr bewusst, dass Jeannes Gegenwart die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation dramatisch erhöhen dürfte.
Er würde noch warten, bevor er sie rief.
„Ich wollte mich nicht über euch lustig machen“, log er also tapfer drauf los, „Sondern ich wollte darauf hinweisen, dass das Gespräch keinen Sinn hat, wenn wir nur vorbereitete Phrasen verlesen, statt einander zuzuhören. Ihr glaubt ernsthaft, dass wir nicht in einem Raumschiff sind?“
„Wir sind nicht hier, um ein Gespräch zu führen“, antwortete Haniba. „Wir sind hier, um dir zu sagen, dass wir Psmiths Freilassung verlangen.“
Kentub zuckte die Schultern.
„Das passt mir eigentlich ganz gut, ich habe sowieso keine Zeit für ein Gesp- whoa. Batu, wenn du das sofort wieder einsteckst, dann muss niemand erfahren, dass du für einen Moment-“
„Sei still, oder ich … tu dir weh.“
Das Grinsen, das Batus offenkundige Unsicherheit mit der Drohung hätte auslösen können, wurde durch Kentubs Verblüffung und beklemmte Sorge im Kein erstickt.
Batu hielt tatsächlich eine Waffe in der Hand, … oder zumindest etwas, das eine sein sollte? Oder zumindest wie eine aussehen?
„Was ist das überhaupt?“ fragte er.
Das Ding war länglich, und Batu hielt es wie eine Schusswaffe in der linken Hand, das kugelförmige Ende, auf dessen Oberfläche bläuliche Entladungen zuckten und leise knisterten, auf Kentub gerichtet.
„Wonach sieht es denn aus?“
Kentub atmete tief durch und bemühte sich, so ruhig zu bleiben – oder zumindest zu wirken -, wie es ihm irgend möglich war. Niemand brauchte jetzt eine weitere Eskalation.
„Es sieht aus, als würdest du mich mit einem gefährlichen Werkzeug bedrohen“, antwortete er nach kurzer Bedenkzeit. „Aber ich bin sicher, dass der Schein trügt. Denn das wäre schließlich ein Verstoß gegen fundamentale Missionsparameter, frei strafbar nach Jeannes Ermessen. Und du weißt so gut wie ich, in welche Richtung sie ihr Ermessen im Zweifelsfall gerne ausübt.“
Er setzte ein Lächeln auf, das hoffentlich nicht ganz so angespannt und verzweifelt aussah, wie es sich anfühlte, und streckte in einer versöhnlichen Geste eine Hand in Batus Richtung aus.
„Was hältst du davon, wenn du das Ding wieder einsteckst, um peinlichen Missverständnissen vorzubeugen, damit wie wieder sachlich und zivilisiert miteinander reden kö-“
Die Tür öffnete sich, und Jeanne schob sich in den Raum, schneller als Kentub sie sich jemals zuvor hatte bewegen sehen.
Batu wirbelte zu ihr herum und richtete sein Werkzeug auf sie, aber ihre Geschütze zielten bereits auf ihn.
Zum ersten Mal in der Mission der Humanity schoss Jeanne auf ihre Besatzung.
Lesegruppenfragen
- Glaubt ihr auch, dass Jeanne einen Fehler gemacht hat, indem sie Kentub zum Kapitän ernannt hat?
- Sie haben Marchant getötet. Diese Schweine! Wie wirkte das so auf euch?
- Hat Jole euch überzeugt? Warum oder warum nicht?
- Ich hab lange nicht mehr gefragt, wie ihr die Vermischung der Zeitebenen findet. Wie findet ihr die?
Pingback: Generationenschiff (18) – Fabian Elfeld, Schriftsteller