Generationenschiff (6)


Ihr wisst ja, was ihr zu tun habt.

Was bisher geschah:

Im ersten Kapitel begleiteten wir Professor Rodney Advani zu einem Besuch bei Präsidentin Sima, um mit ihr über eine bedrohliche Entdeckung zu reden, lernten Kapitänin Tisha kennen, die ebenfalls gerade eine solche gemacht hat und dafür von Jeanne auf der Brücke eingeschlossen wurde, sahen Banja bei einer nicht sehr glücklichen Prüfung für seine Arbeit als Tinker zu, und wurden Zeuge, wie Jahre später  Jole und Kentub darüber beraten, wie sie mit den aktuellen Erkenntnissen über den Planeten umgehen, der das Ziel ihrer Mission sein sollte.

Im zweiten Kapitel hat Piedra zunächst einen Unfall bei einem Außeneinsatz und führt dann ein schwieriges Gespräch mit Psmith, und die Präsidentin entscheidet, die Idee einer KI zur Kontrolle der Mission weiter zu verfolgen.

Im dritten Kapitel debattiert der Besatzung der Humanity über die Vor- und Nachteile einer Landung auf Last Hope versus derer eines Weiterflugs zu einer anderen wirklich allerletzten Hoffnung, Piedra versucht vergeblich, mit Wu über ihren Verdacht gegen Smith zu reden und wendet sich deshalb an Tisha, die gerade gar keine Lust hat, mit so etwas behelligt zu werden, und im Übrigen ist Senator Bowman der Meinung, dass der Planemo vernichtet werden muss.

Im vierten Kapitel wimelt Tisha Piedra ab und sieht mit Jeanne zusammen ein Video von unfassbarer historischer Bedeutung, Nico und Banya fachsimpeln über die Erde und bekommen Besuch von Piedra, und in unserer Zeit versucht Jerry Martinez, die ihn ihre KI gesetzten Erwartungen zu dämpfen.

Im fünften Kapitel folgt Jeanne Kentubs Empfehlung, Tisha will dem Ruf der Natur eigentlich nicht folgen, und Piedra versucht vergeblich, Banya ihren Verdacht gegen Psmith zu erklären.

Was heute geschieht:

93.37.97

Piedra hörte die Tür hinter sich schließen, schloss ihre Augen und lehnte sich mit der Stirn an das kühle Metall des Flures.

Sie versuchte, tief durchzuatmen und ruhig zu durchdenken, was geschah, aber es gelang ihr nicht.

Was würde geschehen, wenn Banya sie hasste? Sie waren doch … na gut, es würde ja immer noch auf dem Umweg übers Labor gehen. Sie brauchten ja keine direkte Befruchtung, um Kinder zu zeugen. Aber was würden die anderen denken, und was würde das für sie bedeuten? Sie hatte niemanden außer Banya.

Sie hatte sich ihr ganzes Leben über auf ihn eingestellt und … sich auf ihn gefreut. Sicher, ihr war schon lange klar, dass es ihm schwerer fiel, sich an den Gedanken einer gemeinsamen Zukunft mit ihr zu gewöhnen, und dass er sich mit Nico entspannter und wohler fühlte als mit ihr, aber sie hatte immer gehofft, dass er ihr gegenüber nervöser war, gerade weil sie gewählt waren, Kinder zu zeugen und groß zu ziehen, und hatte seine Schüchternheit immer vage sympathisch gefunden.

Es war jetzt schwer, an diesem Urteil festzuhalten. Wie er sie vorhin angesehen hatte, machte ihr Angst, und ihr Hals verschloss sich und das Atmen fiel ihr schwer, wenn sie nur daran dachte. Das hatte nicht nur nach vorübergehendem Ärger ausgesehen, sondern nach Verachtung, und sie wusste nicht mehr genau, wo und wann, aber sie hatte mal was drüber gelesen, dass Verachtung einen zuverlässigen Indikator für das Ende von Beziehungen bildete.

Sie wollte nicht akzeptieren, dass es schon zu spät war.

Sie würde es beweisen. Ganz einfach. Sie würde jetzt zu Psmith gehen und ihn befragen und beweisen, dass er etwas verbarg. Dann würden alle sehen, dass sie nicht nur spann, sondern wirklich etwas entdeckt hatte.

Und, was für ein Zufall, es war sowieso nicht mehr weit bis zu seinem Lazarett. Nicht, dass es jemals von einem Ort auf dem Schiff besonders weit zu einem anderen war. Nicht, dass sie überhaupt jemals erleben würde, einen weiten Weg von einem Ort zu einem anderen zurücklegen zu müssen. Aber das war eine andere Kategorie von Problem. Und eine, die sich eh nicht lösen ließ, im Gegensatz zu diesem anderen.

Sie drückte den Schalter neben der Tür und betrat das Lazarett.

„Psmith!“ rief sie. „Psmith, bist du da?“

Niemand antwortete.

Sie stand alleine in dem kleinen Raum mit den zwei Liegen mit den Papierrollen, dem Stuhl, den vielen Regalen mit Schubladen und beschrifteten Fächern und Fläschchen und Tiegeln, und der einen Tür in Richtung seines Büros, und sah sich nachdenklich um.

„Psmith?“ rief sie, jetzt schon erheblich leiser, sodass ‚rufen‘ schon fast nicht mehr das richtige Wort war.

Es war ja eigentlich gar nicht nötig, mit ihm zu reden. Zumindest noch nicht. Noch war es vielleicht viel interessanter, sich hier ohne ihn umschauen zu können und zu sehen, was sich in all diesen Schubladen und Fächern verbarg, falls sie nicht leer waren.

Piedra machte einen zögerlichen Schritt auf den größten der Schränke zu und blieb nachdenklich stehen.

Es gab an Bord der Humanity so gut wie keine Schlösser und überhaupt so gut wie keine physischen Vorkehrungen, die die Besatzung davon abhielten, Regeln zu verletzten.

Dafür gab es eine sehr enge Gemeinschaft aus nur zweiunddreißig Personen, die sich alle darüber im Klaren waren, dass ihre Leben voneinander abhingen, dass sie einander vertrauen mussten, und dass es keinen Ausweg aus dieser Gemeinschaft gab; zumindest keinen, den sie lebend beschreiten konnten.

Dafür gab es das Bewusstsein, dass alles, was eine von ihnen tat, unweigerlich allen bekannt werden würde, weil nichts sich dem alles sehenden Auge Jeannes entziehen konnte, und dass alles, was sie taten, sie ihr Leben lang verfolgen würde, weil sie ihr ganzes Leben in dieser Gemeinschaft verbringen würden, in derselben Rolle, und angewiesen auf das Vertrauen und die Kooperation derselben Menschen.

Dieses Bewusstsein war es, das Piedra nun zurückhielt.

„Psmith!“ rief sie noch mal, wieder lauter als vorher, verstärkt durch ihre Frustration darüber, nicht zu wissen, ob sie gerade eine vernünftige Entscheidung getroffen oder sich nur der Konditionierung gebeugt hatte, die das Leben an Bord der Humanity unweigerlich mit sich brachte. „Psmith, wo bist du?“

Immer noch keine Antwort.

„Jeanne, ist Psmith überhaupt hier?“

Es dauerte ein bisschen zu lange, vielleicht fünf Sekunden, die sich anfühlten wie zehn, bevor Jeanne antwortete: „Ja, Psmith befindet sich in seinem Quartier.“

Jeanne zog die Brauen zusammen und schürzte ihre Lippen.

„Dann ist er taub? Ein Glück, dass ich diesmal nicht verletzt bin und dringend Hilfe brauche.“

Sie stapfte auf die Tür zu seinen Räumen zu und klopfte ungeduldig dagegen.

„Hallo? Psmith? Bist du eingeschlafen?“

„Ähh… Was? Nein ich bin hier. Moment… Was gibt’s denn so Dringendes?“

Er klang tatsächlich, als hätte er geschlafen. Was sollte das denn? Eigentlich war der Mediziner immer auf dem Standardwachzyklus, und seit ihrem Unfall hatte es keinen Anlass mehr gegeben, der bedeutend genug gewesen wäre, ihn umzustellen.

„Psmith, was zur Hölle ist los mit dir?“ Sie klopfte noch mal, etwas nachdrücklicher. „Komm da raus, wir müssen reden, dringend!“

„Kannst du mir die Frequenzmodulation noch mal in anderer … Ja natürlich. Natürlich genau jetzt, das muss ja noch sein.“

Genervt wandte Tisha sich vom Hauptbildschirm ab und schaute auf den aufblinkenden Alarm auf ihrem Armband.

„Psmith? Ist das Zufall, oder hat Piedra gerade was wirklich Dummes getan?“

„Letzteres“, erwiderte Jeanne. „Sie werden hier in diesem Raum verbleiben, während ich die Auseinandersetzung befriede.“

„Jeanne … Du würdest nicht auch selbst etwas Dummes tun, oder?“

„Meine bisherige Fehlerquote lässt mich die Wahrscheinlichkeit als gering einschätzen.“

„Hast du gerade“, begann Tisha, und beendete den Satz mit: „… einen Witz gemacht?“ nachdem die Tür sich hinter Jeanne geschlossen hatte.

03.68.149

Kentub fühlte sich sehr unwohl, während er mit Jeanne durch den Korridor zu Marchands Quartier stapfte.

Er legte gar keinen besonderen Wert darauf, der erste Kapitän der Humanity zu sein, der seine Befehle gewaltsam durchsetzen musste und dabei eine Meuterei provozierte, aber er wurde den Eindruck nicht los, dass alles darauf hinauslief.

„Bist du sicher, dass dies der richtige Weg ist?“ fragte er mit so viel hörbarer Hilflosigkeit in der Stimme, dass sogar er selbst mehr Vertrauen in das Urteil der Maschine empfand als in sein eigenes.

„Ich bin überzeugt“, antwortete sie.

„Vielleicht … wollen wir ja doch noch ein bisschen abwarten und … überlegen und schauen, ob wir nicht doch noch eine bessere Idee haben? Es ist ja so, wenn einmal die Drohung ausgesprochen und der Knüppel aus dem Sack ist, wird es schwer, noch mit rationalen Argumenten durchzudringen.“

„Es bleibt nicht genug Zeit, um längere Überlegungen zu rechtfertigen. Ich habe eine Entscheidung getroffen und muss diese nun rechtzeitig umsetzen, um den Erfolg der Mission nicht zu gefährden.“

„Der Erfolg der Mission wird aber auch gefährdet, wenn wir die Hälfte der Crew gegen uns –“

„Dieses Argument habe ich bereits gehört und berücksichtigt. Die Entscheidung ist getroffen. Wenn Sie Tatsachen vorzutragen haben, die mir bisher nicht bekannt sind, tun Sie es, ansonsten werden Sie mein Vorgehen unterstützen.“

„Hast du die Geschütze schon einmal eingesetzt, Jeanne?“

„Diese Information unterliegt nicht Ihrem Zugang.“

„Ist es nicht … Besteht nicht Gefahr für das Schiff, wenn du damit auf jemanden schießt?“

„Meine Waffen sind mit Kunststoffkompositprojektilen geladen, die vorrangig auf Personenstoppwirkung hin gestaltet wurden. Eine Beschädigung von Elementen des Schiffes ist nicht völlig ausgeschlossen, eine kritische Beeinträchtigung seiner Funktion aber vernachlässigbar wahrscheinlich.“

Kentub seufzte und dachte fieberhaft nach, entschied sich aber letzten Endes, wie alle Kapitäninnen der Humanity vor ihm zu handeln und Jeanne zu gehorchen.

„Sie werden zunächst das Gespräch führen“, sagte Jeanne. „Ich würde Ihre Autorität nur untergraben wollen, indem ich selbst die Anweisungen gebe und durchsetze, wenn es unvermeidlich erscheint.“

Er nickte mit fest zusammengebissenen Zähnen.

Die Tür zu Marchands Raum öffnete sich vor ihnen, und Kentubs Herz sank tief in seine Magengrube, als er sah, dass sich darin nicht nur Marchand befand, sondern mit ihm vier andere Männer und zwei Frauen. Die kleine Kabine bot den sieben Personen nicht viel Raum, aber sie hatten sie offenbar dennoch den größeren, öffentlichen Räumen vorgezogen, die die Humanity ihrer Besatzung für Beratungsgespräche bot.

Marchand schaute mit schmalen Lippen zu Kentub und Jeanne auf und nickte ein paar Mal mit einer sehr sparsamen Bewegung seines Kopfes. Einige der anderen reagierten erschrockener, zwei sprangen auf und schauten sich um, als würden sie einen zweiten Ausgang suchen.

„Schau an“, knurrte Marchand mit einem verächtlichen Lächeln. „Ich hab gar nicht so früh mit der Herrin und ihrem Hündchen gerechnet. Ihr müsst wirklich in Panik sein, hm?“

Kentub stand für einige Sekunden nur stumm da und bemühte sich, seine Überraschung nicht zu deutlich zu zeigen. Mit einem so schroffen Empfang hatte er nicht gerechnet. So weit war der Konflikt aus seiner Sicht noch nicht. Er versuchte mit mäßigem Erfolg, nicht zu sehr darüber nachzudenken, was es über seine Fähigkeiten als Kapitän aussagte, dass die Maschine die Stimmung offenbar zutreffender eingeschätzt hatte als er.

„Meinst du wirklich, dass wir uns jetzt schon beschimpfen müssen?“ fragte er. „Ich bin hergekommen, um vernünftig mit dir … mit euch zu reden.“

„Ach so. Ich hatte mich schon gefragt, wozu du die Kanonen mitgebracht hast. Klar, zum Reden. Hätte ich drauf kommen müssen.“

„Ach komm“, sagte Kentub, „Wir sind doch erwachsen, und das hier ist nicht der …“ Er wollte ‚Schulhof‘ sagen, aber dann war er sich nicht sicher, ob Marchand wissen würde, was er damit meinte, oder ob er vielleicht nicht die gleichen Bücher gelesen hatte. „Willst du jetzt wirklich so ein albernes Duell verbaler Spitzen draus machen? Die Waffen sind ein Teil von Jeanne, sie kann sie nicht abnehmen und ohne sie kommen.“

„Wie praktisch“, sagte eine der Frauen.

Kentub rollte die Augen. „Das ist doch albern. Marchand. Glaubst du, wir können uns mal unter vier Augen unterhalten? Von Angesicht zu Angesicht, ohne Publikum, und ohne Showlaufen?“

Marchand zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht, was wir noch groß zu reden haben. Du weißt, was wir wollen, und dass wir auf Last Hope nicht dabei sind. Wenn du dazu noch was zu sagen hast, kannst dus auch vor allen hier sagen.“

„Wie du möchtest.“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete Kentub die Gruppe. Warum musste das jetzt sein? Hatte die Menschheit nicht genug Pech gehabt? Musste jetzt auch noch Last Hope eine Enttäuschung sein und diese ganze vermaledeite Mission jetzt noch in Gefahr geraten, nachdem sie es tatsächlich unfassbarerweise zu ihrem Ziel geschafft hatte? Er hatte es immer als eine Ehre und ein großes Privileg empfunden, der letzte Kapitän der Humanity zu sein und die Landung tatsächlich miterleben zu dürfen. Jetzt beneidete er seine Vorgängerinnen, die keine tiefergehenden Konflikte zu bewältigen hatten als gelegentliche Knappheiten und die üblichen Streitigkeiten zwischen einzelnen Crewmitgliedern. Na gut, und die Sache mit dem Fremden damals. Die war natürlich auch nicht einfach gewesen. Aber das hier war echt nicht fair.

„Mal ehrlich … Was denkt ihr denn, wie das gehen soll? Ihr wollt dann zu acht das Schiff noch ein paar Jahre weiter am Laufen halten, und wir sollen mit noch stärker reduzierter Besatzung und noch geringerer genetischer Vielfalt hier versuchen, die Menschheit wieder aufzubauen? Alles, was du erreichst ist, dass beide Optionen mit Sicherheit scheitern.“

„Und das ist dann natürlich meine Schuld, weil ich nicht so ein gehorsames braves Hündchen bin, wie es sich gehört, ja? Weil ich nicht mein Leben und das meiner Familie und Freunde in die … Greifer dieser Maschine lege? Kentub, siehst du nicht, was hier passiert? Diese Mission sollte die Menschheit retten, aber sieht du, zu was sie dich gemacht hat?“

Kentub schnaubte verächtlich und wusste schon, dass es ein Fehler war, bevor er in die Gesichter Marchands und der anderen schaute. Er zwang sich, so wenig herablassend und so ernst zu antworten, wie er konnte.

„Meinst du nicht, dass du es jetzt ein bisschen übertrieben hast mit dem Pathos? Jeanne erfüllt ihre Funktion hier, wie wir alle, und die Entscheidung, auf Last Hope zu landen, hat nicht sie getroffen. Und es ist auch nicht so, als wüsstest du, dass auf 3K1403c ein blühendes Pardies auf uns wartet, wo der Nudelsalat nur so vom Himmel fällt!“

Nun war es an Marchand, verächtlich zu schnauben.

„Mach dich über uns lustig, soviel du willst. Wir spielen nicht mit.“

Kentub sah ihn einige Sekunden lang an und dachte nach. Wäre es nur nach ihm gegangen, hätte er es noch eine ganze Weile weiter mit Argumenten versucht, aber er fürchtete, dass Jeanne ihm irgendwann zuvorkommen und Marchands These von ihm als Sklaven der Maschine für die anderen perfekt illustrieren würde, deshalb seufzte er und antwortete:
„Ihr habt keine Wahl.“

„Meinst du?“ Marchand nickte in Richtung der Tür und sah mit einem zufriedenen Lächeln zu, wie sie sich vor Kentubs Nase und Jeannes Kameras schloss.

„Was … war das?“ fragte Kentub.

„Der Fremde“, antwortete Jeanne.

„Dreck“, murmelte Kentub.

  1. November 2045

„Eigentlich schade, dass wir niemandem davon erzählen können“, sinnierte Rodney, während er mit seiner Teetasse durch die Scheibe die letzten Vorbereitungen für den Start der Rakete beobachtete.

„Können wir, sobald es geklappt hat“, sagte Jerry Martinez von ihrem Stuhl an dem großen Konferenztisch. Sie saß vor ihrem Laptop und tippte. Natürlich. War ja nicht so, als würden sich hier historische Ereignisse abspielen. „Vorher wäre … ungeschickt.“

„Wir könnten ja zwei Minuten Verzögerung einbauen und im Unglücksfall vorspiegeln, alles wäre gut“, schlug Rodney vor.
„Weil ja auch völlig auszuschließen ist, dass jemand den Start auf einem Handy filmt und dann alles rauskommt.“

Er verkniff sich eine gehässige Antwort. Es gab einen Grund, aus dem er Gespräche mit Informatikern mied, wann immer möglich. Und Informatikerinnen.

„Ach naja … Wenn wir anfangen, in die Richtung zu denken, müssen wir eigentlich eh davon ausgehen, dass es rauskommt, oder? Wie viele Leute sind an diesem Start hier beteiligt?“

„Die meisten wissen aber nicht, worum es geht.“

„Denken wir.“ Da, dachte er, siehst du? Das Paranoiaspiel können zwei spielen, auch wenns ein doofes Spiel ist. „Wie schwer kann es zu erraten sein, für welche Art Mission diese Spezifikationen erforderlich sind? Allein die Treibstoffmenge wäre absurd für einen Satellitenstart, und dass es keine alltägliche wissenschaftliche Mission ist kann man möglicherweise an dem Nukleargefechtskopf-“

„Die Information ist …“

Rodney nickte zufrieden. Sie hatte den Satz nicht mal zu Ende gesprochen, weil sie genau so wie er wusste, dass die Rakete vielleicht nicht offiziell einen Nukleargefechtskopf, oder genauer: mehrere solche transportierte, dass aber jeder, der sich auch nur ein bisschen Gedanken darum machte, diesen Schluss aus den Sicherheitsvorkehrungen und Warnhinweisen und den tausend anderen unvermeidlichen Indizien ziehen konnte.

„Und was genau war noch mal die Position, die Sie gerade zu verteidigen versuchen?“

Rodney verdrehte die Augen, wandte sich zu ihr um und öffnete den Mund, um es zu erklären, als ihm das Problem auffiel.

Mist.

93.37.97

„Lass es mich sehen! Na los, zeigs mir doch einfach, wenn es so offensichtlich ist!“

„Hätte ich, wenn du nicht hier reingekommen wärst wie die Spanische Inquisition und … und … ähmmm … irgendeine andere überhebliche Scheißorganisation in einem! Wenn du glaubst, du kannst hier die Polizei spielen, nur weil du eine bescheuerte Hüllenmechanikerin bist und ihr ja schon immer die besten und die härtesten seid, die für alle anderen das Ding hier am Laufen halten, und was ist da im Vergleich schon der Typ, der für euer aller Scheiß-Gesundheit und Leben verantwortlich ist, hä? Der trägt ja nicht mal einen Raumanzug und hat noch nie das Schiff verlassen, hä?“

Die letzten zwei Sätze hatte er geschrien, so laut, dass sie Speicheltröpfchen im Gesicht hatte. Seine Wut und Leidenschaft ließen sie für einen Moment sprachlos und mit offenem Mund – rückblickend ein bisschen unvorsichtig, zugegeben – vor ihm stehen. Sie gab keine Antwort mehr, bevor sich die Tür öffnete und Jeanne auf ihren insektoiden Metallbeinen in den Raum stakste.

„Sie haben einen Alarm ausgelöst“, sagte sie mit ihrer seltsam unbefangenen und gerade eben nicht freundlichen Stimme. „Bitte informieren Sie mich über die Natur des Notfalls und die Einzelheiten der Situation, und nehmen Sie umgehend einen angemessenen Abstand zueinander ein, um den Einsatz unmittelbaren Zwangs zur Klärung der Umstände zu vermeiden.“

Piedra schaute in die leeren gläsernen Abgründe der Kameras der Maschine und öffnete und schloss den Mund. Psmith kam ihr zuvor.

„Ich weiß auch nicht, was mit ihr los ist“, sagte er mit, wie sie selbst zugeben musste, einer sehr überzeugenden Darstellung von verblüffter Vernunft. „Ich habe sie vor Kurzem wegen einer Verletzung behandelt, die sie draußen durch eine Staubwolke erlitten hat, und jetzt ist sie schon wieder hier und beschimpft mich, weil ich ihr nicht mehr Schmerzmittel g-“

Piedra hatte noch nie in ihrem Leben auch nur in böser Absicht einen anderen Menschen berührt und betrachtete nun verwirrt und ungläubig ihre geballte Faust, und den am Boden liegenden Psmith.

Er lag auf dem Rücken und starrte fassungslos zur Decke, bis er sich auf die Ellenbogen aufrappelte und fassungslos Piedra anstarrte.

Eine sehr lange Zeit schien zu vergehen, bis Psmith schließlich das Schweigen brach. Er hob einen Arm, streckte seinen Zeigefinger in Piedras Richtung aus und rief:

„Da! Siehst du! Sie ist völlig wahnsinnig! Ich weiß auch nicht, was mit ihr los ist, aber sie hat offensichtlich völlig die Kontrolle verloren. Ihre Verletzung war nicht mal besonders dramatisch, und trotzdem-“

„Es geht nicht um meine Scheißverletzung!“ schrie Piedra. „Meine Verletzung ist mir völlig piepegal, und das weißt du genau, du ekliges Wiesel!“

Sie zwang sich, zwei Schritte von ihm zurückzutreten, um der Versuchung zu widerstehen, ihn zu treten.

„Sie werden nun die Krankenstation verlassen, Piedra“, sagte Jeanne, „Und Sie werden in Ihrem Quartier warten, bis ich Sie auffordere, es zu verlassen.“

„Nein, das … Nein warte! Ich muss dir das erklären, Jeanne, er hat das gerade völlig falsch erzählt, es ist einfach nicht wahr was er sagt! Meine Verletz-“

„Sie werden nun die Krankenstation verlassen, Piedra, oder ich werde Sie aus der Krankenstation führen.“

„Das ist nicht fair, und ich hab so dermaßen die Nase voll, wirklich!“

„Jeanne, schaff sie hier raus, bitte! Sie ist völlig wahnsinnig!“

„Sie werden sich beide weiterer Äußerungen, die nicht zur Aufklärung der Sache beitragen, enthalten und meine Anweisungen befolgen. Ich werde keine weitere Verzögerung dulden.“

„Ich will doch gerade zur Aufklärung …“

Piedra verstummte, als Jeannes Geschütz sich mit einem leisen Surren auf sie ausrichtete. Sie öffnete ihren Mund, verkniff sich dann aber doch lieber die Frage, ob Jeanne im Ernst auf sie schießen würde. Sie befürchtete, die Antwort zu gut zu kennen, um es darauf ankommen zu lassen.

Mit geschürzten Lippen und hängenden Schultern schlurfte sie durch die Tür in den Flur hinaus, den metallenen Gang entlang in ihr Quartier. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, zögerte sie kurz, unsicher, ob sie sich an Tisha wenden sollte, oder jemand anderen um Hilfe bitten, entschied sich aber dagegen, Jeanne weiter zu provozieren, und dafür, ihr zuzutrauen, die Wahrheit herauszufinden.

Sie drückte den Taster zum Schließen der Tür, ließ sich auf ihre Liege fallen, stützte den Kopf auf die Hände und die Ellenbogen auf die Knie und wartete auf Jeanne.

Lesegruppenfragen

  1. Mir ist natürlich klar, dass Piedras Hoffnung, Banyas Respekt zurückzugewinnen, indem sie Psmith auf die Schliche kommt, ein bisschen gewagt ist, aber mir schien es zu ihr und der aktuellen Situation zu passen. Hats euch gestört?
  2. Die Szene in 2045 ist ein bisschen untererklärt, scheint mir. Fandet ihr sie einleuchtend?
  3. Seid ihr auf Kentubs/Jeannes oder Marchands Seite, oder ergibt die Frage für euch gar keinen Sinn?
  4. Glaubt ihr, dass Jeannes Geschütze tatsächlich nur mit Gummigeschossen geladen sind?
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3 Kommentare zu “Generationenschiff (6)

  1. 1. Nein, ich fand es auch passend.

    2. Ja, sie gefiel mir gut.

    3. Auf keiner Seite. Beide Optionen sind sehr riskant und beide Gruppen wirken nicht vertrauenswürdig.

    4. Ich würde erwarten, dass sie für alle erdenklichen Fälle ausgerüstet ist.

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