Generationenschiff (9)


Ohgottohgottohgott. August 2015 wars, als das letzte Kapitel unseres Fortsetzungsromans erschienen ist. Das tut mir leid. Aber ihr wisst, wie das Leben manchmal so spielt, ich hab mich laaaaaaange um eine ziemlich richtungweisende Entscheidung gedrückt, die in diesem Kapitel fällt, und die Hauptsache ist doch, dass es überhaupt weiter geht, oder?

Oder?

Hallo…?

Hm. Na gut, ich … leg dieses Kapitel hier einfach mal hin, und wenn noch jemand … Naja. Ich werd jetzt hier mal die Spinnwegen wegmachen, ein bisschen staubwischen und die Heizung aufdrehen, und vielleicht kommt hin und wieder ja doch noch mal eine Leserin vorbei, oder ein Leser. Ich bin jedenfalls da. Versprochen.

Viel Spaß.

Was bisher geschah:

Im ersten Kapitel begleiteten wir Professor Rodney Advani zu einem Besuch bei Präsidentin Sima, um mit ihr über eine bedrohliche Entdeckung zu reden, lernten Kapitänin Tisha kennen, die ebenfalls gerade eine solche gemacht hat und dafür von Jeanne auf der Brücke eingeschlossen wurde, sahen Banja bei einer nicht sehr glücklichen Prüfung für seine Arbeit als Tinker zu, und wurden Zeuge, wie Jahre später  Jole und Kentub darüber beraten, wie sie mit den aktuellen Erkenntnissen über den Planeten umgehen, der das Ziel ihrer Mission sein sollte.

Im zweiten Kapitel hat Piedra zunächst einen Unfall bei einem Außeneinsatz und führt dann ein schwieriges Gespräch mit Psmith, und die Präsidentin entscheidet, die Idee einer KI zur Kontrolle der Mission weiter zu verfolgen.

Im dritten Kapitel debattiert der Besatzung der Humanity über die Vor- und Nachteile einer Landung auf Last Hope versus derer eines Weiterflugs zu einer anderen wirklich allerletzten Hoffnung, Piedra versucht vergeblich, mit Wu über ihren Verdacht gegen Smith zu reden und wendet sich deshalb an Tisha, die gerade gar keine Lust hat, mit so etwas behelligt zu werden, und im Übrigen ist Senator Bowman der Meinung, dass der Planemo vernichtet werden muss.

Im vierten Kapitel wimelt Tisha Piedra ab und sieht mit Jeanne zusammen ein Video von unfassbarer historischer Bedeutung, Nico und Banya fachsimpeln über die Erde und bekommen Besuch von Piedra, und in unserer Zeit versucht Jerry Martinez, die ihn ihre KI gesetzten Erwartungen zu dämpfen.

Im fünften Kapitel folgt Jeanne Kentubs Empfehlung, Tisha will dem Ruf der Natur eigentlich nicht folgen, und Piedra versucht vergeblich, Banya ihren Verdacht gegen Psmith zu erklären.

Im sechsten Kapitel gerät Piedra mit Psmith aneinander, Kentub und Jeanne mit Marchand, und Rodney mit Jerry Martinez.

Im siebten Kapitel verhört Jeanne erst Piedra und dann Tisha, Kentub und Jeanne gehen zu dem Fremden, und Jerry und Rodney diskutieren über die Rettung der Menschheit.

Im achten Kapitel verkündet Jeanne in einer Teambesprechung einige wichtige Neuigkeiten, Kentub versucht, mit dem Fremden zu diskutieren, und Jeanne ernennt ihn zum neuen Kapitän.

Was heute geschieht:

02.38.97

„Du schon wieder.“

„Dein Vater hat mit mir gesprochen“, sagte Piedra.

„Das ist ja mal eine wunderbare Idee von ihm! Genau, was mir noch fehlte.“

„Was?“

Ein paar Sekunden lang starrte sie ihn entgeistert an, bevor sie verstand.

„Nein“, sagte sie, heftig den Kopf schüttelnd, „Nicht deshalb. Wegen der Sache mit Psmith.“

„Oh. Ach so.“

Banja fühlte sich jetzt ein bisschen dumm wegen seiner ersten vorschnellen Vermutung, war aber zu verärgert, um es auch nur vor sich selbst einzugestehen.

„Und … was möchtest du dann jetzt hier?“

Sie schloss die Augen und atmete tief durch.

„Banja, wir sind ein Paar. Wir werden eine Familie sein. Wir müssen füreinander da sein, und ich will wirklich nicht aufdringlich sein oder so, und ich merke, dass du es noch nicht so richtig empfindest, aber …“

Er würde nie erfahren, ob er sie unterbrach, oder ob sie sowieso nie ein Ende für den Satz gefunden hätte.

„Ist das dein Ernst?“ fragte er. „Glaubst du das wirklich? Kannst du dir das immer noch einreden?“

Sie starrte ihn ähnlich entgeistert an wie zuvor, nur mit mehr Sorge in ihrer Miene.

„Was willst du damit sagen? Wir können uns das nun mal nicht aussuchen!“

Er wartete ein paar Sekunden lang.

„Warum eigentlich nicht?“ fragte er schließlich.

Sie öffnete und schloss ihren Mund wie ein aufgebrachter Ochsenfrosch – manchmal war Banja froh, in einer Welt zu leben, in der kopfgroße Frösche genauso mythisch schienen wie Drachen, Einhörner und Blauwale – und stieß am Ende hervor:

„Das weißt du so gut wie ich!“

„Ja? Kann sein. Ich weiß es nämlich nicht. Andererseits weiß ich wenigstens, dass ich es nicht weiß.“

„Du weißt ganz genauso gut wie ich, dass Jeanne uns zusammenfügt in Abhängigkeit von unserer Kompatibilität als Familienmitglieder, unserer genetischen Varianz und den Risiken von Erbkrankheiten, unseren Kompetenzen mit Bezug auf den Bedarf an Personal für die Besatzung und …“

„Und wozu das Ganze?“

„Naja … Für die Mission!“

„Und was, wenn mich die Mission gar nicht interessiert? Was, wenn ich nicht das Leben führen will, das irgendein General, der schon lange tot ist, vor fast zweihundert Jahren für mich ausgewählt hat, um das Bild von der Zukunft zu realisieren, von dem er glaubte, dass es seinen Vorstellungen von seiner Pflicht oder den Wünschen seines obersten Kommandeurs oder der Wähler oder von wasweißichwem am besten entsprechen würde? Was, wenn ich gerne mein eigenes Leben hätte?“

Sie sah ihn an, als hätte er gerade vorgeschlagen, lieber umzudrehen und in Richtung der Pleiaden zu fliegen, weil da angeblich das Wasser wärmer und die Strände noch ein bisschen sauberer sein sollten.

„Wir sind nicht hier, um uns zu vergnügen und uns zu verwirklichen, Banja!“ sagte sie, „Das hier ist eine Mission, die den Fortbestand der Menschheit sichern soll. Die einzige solche Mission! Wir sind die letzte Chance …“

Er winkte entnervt ab.

„Ich weiß gar nicht, warum ich mit dir streite, wenn ich doch genausogut eine Werbebroschüre lesen könnte.“

Sie blinzelte konsterniert.

„Eine was?“

Banja stöhnte. „Und du willst die Menschheit retten …“

„Und was willst du?“ fragte sie, ohne ein Anzeichen, sich seines Sarkasmus bewusst zu sein.

Er zuckte die Schultern und schaute auf seine Füße.

„Ich …“ Er zögerte. Es gab so viele Dinge an Bord er Humanity, die er nicht wollte, dass er nur selten dazu kam, sich Gedanken darüber zu machen, was er wollte.

„Frei sein?“ versuchte er, und ärgerte sich sogleich darüber, nun auch wie eine Werbebroschüre zu klingen. „Ich selbst sein?“ war sein nächster Versuch, gefolgt von: „Ich will Entscheidungen für mich selbst treffen, ohne permanent an meine Verantwortung vor der Menschheit erinnert zu werden. Ich bin nicht die Menschheit, und die Menschheit hat nie irgendwas für mich getan, ich schulde der Menschheit nichts, und ich habe nie gesagt, dass ich irgendwas für sie zu tun bereit bin!“

Jetzt grinste sie überlegen, und das machte ihm ein bisschen Sorge.

„Nichts für dich getan?“ fragte sie.

Er schob sein Kinn vor und nickte, obwohl er schon wusste, was jetzt kommen würde.

„Was denkst du, wie gut das klappen würde mit deiner Freiheit und Selbstbestimmung und deinen eigenen Entscheidungen ohne … sagen wir, zum Beispiel, das große Raumschiff, in dem du dein ganzes Leben verbracht hast und das das einzige ist, das dich vor dem Vakuum des Alls schützt und dich mit Sauerstoff und Nahrung und Wärme versorgt? Oder meinst du, du hättest das selbst auch irgendwie hingekriegt?“

„Das … ist was Anderes. Ja, sicher, aber … Ich hab nie um ein Raumschiff gebeten, und ohne das Raumschiff bräuchte ich das Raumschiff ja auch gar nicht, weil ich dann nicht im interstellaren Raum wäre!“

„Sondern tot.“

„Das weißt du gar nicht.“

„Du hast gerade eben noch selbst gesagt, dass der General tot ist, Banja! Hörst du dir manchmal selbst zu?“

„Natürlich ist er tot, er wäre jetzt hundertachtzig Jahre alt!“

Jetzt war es an ihr, sich ertappt zu fühlen.

„Das ist doch Blödsinn“, sagte sie schließlich. „Natürlich hast du recht, wenn du dir die Realität einfach hinbiegen kannst, wie du willst. Aber eigentlich weißt du genauso gut wie ich, dass die Erde nicht mehr existiert, und wir die letzten Menschen sind, und die Alternative zu Hiersein Totsein ist! Und ich finde, das Mindeste, was wir tun können, ist sicherzustellen, dass wir hier bleiben, und der Rest der Besatzung auch, und dass die Menschheit fortbesteht und nicht mit uns endet, weil wir zu besessen davon waren, unseren Willen durchzusetzen und Recht zu haben!“

„Ach, und du denkst, darum geht es mir, ja? Dass ich das alles hier und alle hier aufs Spiel setze, nur um Recht zu haben? Und von mir willst du Kinder, verstehe ich das richtig? Wer von uns sollte sich jetzt mal zuhören, hm?“

Sie seufzte, schüttelte den Kopf und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare.

„Nein, das denke ich eben nicht. Ich glaube nur, dass du nicht richtig drüber nachgedacht hast.“

„Ich denke über nichts Anderes nach!“

„Eben! Du hast dich so tief hineingeschraubt in deine eigene Vorstellung davon, wie es sein sollte, dass du die Wirklichkeit überhaupt nicht mehr sehen kannst!“

„ICH kann die Wirklichkeit nicht mehr sehen?“ Er merkte, dass er zu laut sprach, aber er fand das angemessen, und war schon stolz darauf, sie nicht anzubrüllen, dass sie sich Speichel aus den Augen wischen musste. „ICH? Wer von uns hat denn immer noch nicht begriffen, dass du und ich kein Paar sind und kein Paar werden und ich kein Kind mit dir zeugen würde, wenn du der letzte Mensch im ganzen Universum wärst? Familie, hm? Soll ich dir zeigen, wo du dir deine Familie …“

 

„Ich will Piedra nicht.“

Kentub schloss die Augen und seufzte, so leise er konnte, in der Hoffnung, dass es als nachdenkliches Atmen durchgehen würde.

„Das ist schade“, sagte er schließlich. „Aber vielleicht kannst du ja versuchen … dich an sie zu gewöhnen, oder eben nur das Notwendigste zu …“

„Nein!“ Banja warf seinen Becher gegen die Wand. Weil der Becher aus Kunststoff bestand und beinahe leer gewesen war, korrelierte der Effekt in einem lächerlich geringen Maße mit der Emotion, die ihn hervorgebracht hatte. „Nein!“ schrie er noch einmal.

„Banja“, sagte sein Vater. Er versuchte, eine Hand auf die Schulter seines Sohnes zu legen, aber Banja zuckte zurück. „Es ist nicht unsere Entscheidung. Es ist geplant –“

„Es ist mir egal! Verstehst du das nicht? Ich gebe einen Scheiß auf eure Sozialingenieure und Biowissenschaftler, die schon seit hundert Jahren tot sind! Ich liebe Nico, und ich kann Piedra nicht ausstehen, und ich will keine Kinder, und es ist mein Leben!“

Kentub schüttelte langsam und traurig den Kopf.

„Ich verstehe das“, sagte er.

„Du verstehst gar nicht“, knurrte Banja.

Jetzt verdrängte ein melancholisches Schmunzeln die Trauer von Kentubs Gesicht.

„Weil du natürlich der erste Mensch auf der Welt bist, der je mit seinen Lebensumständen unzufrieden war und gerne die Freiheit wollte, sich selbst zu verwirklichen?“

Das ließ Banja ein paar Sekunden innehalten und seinen Vater konsterniert anstarren.

„Naja … Nein. Aber … Ihr alle nehmt die Regeln so völlig selbstverständlich und ergeben hin, die irgendwelche Leute, die wir nicht mal kennen, sich irgendwann mal ausgedacht haben, nicht in unserem Interesse, und nicht mal richtig in ihrem eigenen, sondern für irgendein höheres Gutes, und man weiß ja, wohin sowas immer führt, und ich verstehe das nicht! Warum sollten wir uns denen gegenüber verpflichtete fühlen, oder sonst irgendwem? Was haben wir getan, dass wir kein Recht haben, wir selbst zu sein, sondern unsere Leben opfern müssen für die Menschheit, oder das intelligente Leben im Universum, oder sonstwas?“

Kentub schmunzelte weiter, und seufzte.

„Wir müssen das alle früher oder später lernen, Banja: Manchmal ist es besser, schlechte Regeln zu haben, als gar keine.“

Darüber dachte er immerhin wirklich nach.

„Vielleicht“, gestand er schließlich ein, „aber es ist immer besser, bessere Regeln zu haben, als schlechtere.“

„Und du glaubst, dass man die bekommt, indem man die schlechten ignoriert, einfach macht, was man für richtig hält, und die beschimpft und verspottet, die sich noch daran gebunden fühlen?“

Wieder brauchte Banja eine Pause, bevor er antwortete.

Kentub nahm das als gutes Zeichen, sowohl für den Gesprächsverlauf, als auch für seinen Sohn insgesamt.

„Ich will überhaupt niemanden beschimpfen und verspotten. Aber ich kann so nicht leben. Ich liebe Nico, und ich kann Piedra nicht ausstehen, und ich will ganz bestimmt keine Kinder mit ihr.“

„Ich bin ziemlich sicher, dass Kennedy auch lieber was Anderes gemacht hätte, als sich um die Kuba-Krise zu sorgen, aber manchmal müssen Menschen Dinge tun, die sie nicht wollen, weil das hier nun mal nicht die Banja-Show ist, sondern das Universum, in dem wir alle gemeinsam irgendwie sehen müssen, wie wir miteinander am besten zurechtkommen. Und wenn wir keine gesunden Kinder zeugen, dann kommt bald überhaupt niemand mehr zurecht, und deswegen ist das nun einmal zurzeit unser Job, ob wir wollen oder nicht.“

„Kennedy hat sich zur Wahl gestellt, um Präsident zu werden, und er wusste, was das heißt, und er hat die Wahl in diesem Wissen angenommen, und das ist was völlig Anderes. Einen Job bekommt man nicht einfach zugewiesen, den muss man auch annehmen.“

Kentub seufzte, zuckte die Schultern und fuhr sich mit der Rechten durch die Haare.

„Klar“, sagte er. „Und ich glaube, ich hab dir jetzt gesagt, was ich zu sagen hatte. Jetzt überleg dir bitte, ob du den Job annimmst, oder nicht.“

Banja schnaubte verächtlich.

„Ja genau. Weil ihr ja auch alle glaubt, ich hätte darüber noch nicht weiter nachgedacht, was?“

Kentub lächelte ihn so geduldig an, wie er konnte.

„Wir sind alle gemeinsam auf diesem Schiff, Banja, und niemand kann ohne die anderen überleben. Sie sind alle aufeinander angewiesen. Es gibt keinen Ausgang.“ Er zuckte die Schultern. „Mach damit, was du für richtig hältst, aber ich hoffe eben, dass du es dir gut überlegst.“

Banja wandte sich ab und stapfte in sein Zimmer.

„Es gibt immer einen Ausgang“, brummte er, währen er die Tür hinter sich schloss.

 

05.68.149

Kampfhandlungen war ein gerade in seiner bürokratisch-blutlos anmutenden Banalität sonderbar dramatischer Begriff für Kentub, der in seinem ganzen Leben noch keinen realen Kampf erlebt oder auch nur gesehen hatte, wie eine Waffe benutzt wurde.

Ungeachtet dessen schien ihm im Vergleich zur Schwere des Begriffs die Situation in den Gängen der Humanity beinahe antiklimaktisch ruhig.

„Bist du sicher, dass wir hier einfach so offen herumlaufen sollten? Dir kann ja womöglich nichts passieren, aber ich bin nicht mit Metallplatten gepanzert, weißt du?“

„Ich schätze meine Fähigkeit, Sie vor eventuell auftretenden Gefährdungen zu schützen, hoch genug ein, um das verbleibende Risiko eines möglichen Verlustes in Kauf zu nehmen. Ein gelegentlicher Wechsel der Missionsführung kann sich vorteilhaft auswirken und hat seit 52 Jahren nicht mehr stattgefunden. Darüber hinaus ist die Rolle des Kapitäns in dieser Phase der Mission nicht mehr kritisch.“

„Ist es in Ordnung, wenn ich das nur teilweise beruhigend finde?“

„Das ist vollständig akzeptabel.“

„Es gibt Momente, in denen sogar ich mir wünschte, du würdest einfach aufhören. Witze zu machen.“

„Ich-“

„Jaja, schon gut, bitte sags nicht“, unterbrach er sie und wedelte dabei hektisch mit den Händen.

Zu seiner Überraschung folgte sie seinem Wunsch und stakste wortlos weiter auf ihren metallenen Ameisenbeinen vor ihm her und sah ihn dabei möglicherweise an, oder nicht, möglicherweise entnervt, belustigt, besorgt, freundlich oder hasserfüllt, gleichgültig oder neugierig, oder auf völlig andere Weise, die menschliche Gehirne nicht zu erfassen vermochten und womöglich Jeanne als der einzigen ihrer Art vorbehalten blieb, und für immer bleiben würde.

Und Kentub folgte ihr ebenso wortlos, und wusste selbst nicht zu sagen, was genau er dabei empfand, für die Situation und für die Führerin der Mission, die ihm gerade gesagt hatte, dass sein Tod ein akzeptables Risiko war und vielleicht ja sogar ganz gut für die Moral wäre.

„Haben sie denn Waffen?“ fragte er.

„Die Waffenvorräte sind gesichert und können nur von mir geöffnet werden.“

„Das hab ich nicht vergessen“, antwortete Kentub, „Aber es könnte ja sein, dass der Fremde wieder eingegriffen hat, oder dass sie Werkzeuge gefunden haben, die sich umfunktionieren lassen.“

„Die Waffenvorräte sind gesichert und können nur von mir geöffnet werden.“

„Manchmal bist du gar nicht so geschickt darin, Fragen auszuweichen, wie du wahrscheinlich denkst, hat dir das schon mal jemand gesagt?“

Jeanne antwortete nicht auf die Frage, aber noch bevor Kentub sich entscheiden konnte, ob er noch einmal nachhaken sollte, und ob er das dann vorrangig mit der wenig erfolgversprechenden Absicht tun würde, weitere Informationen aus ihre hervorzulocken, oder mit der noch weniger erfolgversprechenden, sie einfach nur zu provozieren, erreichten sie die Kampfhandlungen.

Kentub war nicht ganz sicher, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte, stellte aber mit einer gewissen Erleichterung fest, dass seine Enttäuschung sich in Grenzen hielt, als er weder Waffen, noch ernsthafte Verletzungen sah, sondern lediglich ein sehr unspektakuläres Gerangel, das wahrscheinlich unter anderen Umständen lustig hätte sein können, in denen es nicht symptomatisch für eine in der Geschichte der Humanity bisher einzigartige und für die gesamte Besatzung lebensbedrohliche Spaltung derselben gewesen wäre.

Marchant war an seiner schieren Größe, dem kantigen Bürstenhaarschnitt und der Drachentätowierung in seinem Nacken leicht zu erkennen, aber genau wegen jener Größe musste Kentub sich auf die Zehenspitzen stellen und ein wenig zur Seite lenen, um zu erkennen, wen er gerade an den Ärmeln gepackt und gegen die Wand gedrückt hatte.

Er fragte sich nur kurz, ob Jeanne die ganze Zeit gewusst hatte, dass tatsächlich keine Waffen im Spiel waren, und Gründe gehabt hatte, ihn in Sorge zu lassen, oder ob sie hatte verschleiern wollen, dass ihr Blick auf diesen Teil des Schiffes getrübt war, ob nun durch Sabotage im Rahmen der Meuterei oder durch einen weiteren Eingriff des Fremden.

Hatte es gerade noch so ausgesehen, als hätte die erheblich kleinere Bayes keine Aussichten auf Erfolg gegen ihren hünenhaften Kontrahenten, gelang es ihr nun, ihn mit einem Biss in die Schulter zu überraschen. Mit einem Aufschrei sprang Marchant einen Schritt zurück, und sie setzte sofort nach, versetzte ihm einen kräftigen Tritt, der allerdings nicht sehr wirkungsvoll an seinem rechten Knöchel abrutschte und ihm nicht mehr als ein leises Fluchen entrang.

Hätte zuvor jemand Kentub gefragt, hätte er nicht ehrlich sagen können, wie er in einer solchen Situation reagieren würde, aber nun schien es doch offensichtlich, und er zögerte nicht, sondern schob sich vorbei zwischen Jeanne und der Wand des Flures vorbei, atmete tief ein, sammelte all seinen Glauben an die eigene Autorität zusammen und bellte:

„Bayes, treten Sie umgehend zurück und nehmen Sie Abstand von Marchand!“

Zu seiner Überraschung hielten die beiden tatsächlich inne und schauten zu ihm auf, wahrscheinlich ähnlich unsicher wie er selbst, welche Reaktion diese Lage nun von ihnen erforderte.

„Na los!“ rief er, um ihnen nicht zu viel Zeit zum Nachdenken zu geben. Fast hätte er noch damit gedroht, Jeanne den Kampf mit physischem Zwang beenden zu lassen, aber er zog es vor, es mit eigener Überzeugungskraft zu versuchen, solange er noch die Wahl hatte.

Bayes trat einen Schritt zurück von Marchand, der stehen blieb und mit halb erhobener Faust von Jeanne zu Kentub zu Name schaute. Kentub bemerkte, dass sein Blick am längsten an Jeanne hängen blieb, aber er beschloss, seine Selbstachtung nicht daran festzumachen.

„Das meint ihr nicht ernst, oder?“ fragte er, und erntete dafür verwirrte Blicke. Gut. „Wir sind die letzten Menschen im Universum, alle zusammen in dieser Blechdose, von der inzwischen kein Teil mehr übrig ist, das von mehr zusammengehalten wird als Spucke und Tackerklammern und ganz ganz viel Hoffnung, und der jetzt gerade zusehends alles ausgeht, was an kritischen Vorräten vorhanden ist, und ihr haltet es wirklich für eine gute Idee, euch wie Zwölfjährige hier in den Gängen zu kloppen und an den Haaren zu ziehen? Ich glaub das gerade nicht.“

Marchand betrachtete Jeanne, nachdenklich und mit unverkennbarer Genugtuung.

„Der Fremde hat sie da, wos weh tut, oder? Wisst ihr, wie ers gemacht hat? Und warum er auf unserer Seite ist?“ Nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu: „Und hast du den Mumm, es zuzugeben, oder fürchtest du, dass Mama dich dann übers Knie legt, wenn ihr zu Hause seid?“

Bayes öffnete den Mund, um ihm zu widersprechen, aber Kentub hob eine Hand, und zu seiner enormen Befriedigung gehorchte sie der Geste.

„Fangen wir jetzt wieder mit dem Selber-doof-Posieren an?“ fragte er. „Du weißt genauso gut wie ich und sie, dass keiner hier versteht, was in dem Fremden vorgeht, und dass er aber ziemlich sicher in niemandes Tasche steckt, nicht in deiner, und in meiner schon gar nicht.“

„Warum lässt er euch dann nicht einfach machen, was ihr für richtig haltet?“

Kentub zuckte die Schultern. „Hab ich mir nicht richtig zugehört, oder habe ich gerade erklärt, dass ich ihn auch nicht verstehe? Vielleicht hat er was dagegen, dass ihr gegen euren Willen gezwungen werdet, eure Leben und die eurer Nachkommen auf Last Hope zu verwetten. Vielleicht will er, dass wir eine einvernehmliche Lösung finden, und vielleicht ist ihm egal, dass mindestens einer von uns seinen Stolz überwinden muss, damit das rechtzeitig klappt, um noch eine Rolle zu spielen. Vielleicht interessiert ihn nicht mal, ob es am Ende klappt, weil das alles hier für ihn nur ein Experiment ist, oder ein Spiel, oder nette Unterhaltung zu Einschlafen, was weiß ich denn schon über den Fremden? Aber für uns ist das hier unser Leben, und das unserer Nachfahren, und das der ganzen verbleibenden Menschheit, und deswegen erwarte ich von dir, dass du nicht mit mir drüber philosophierst, was den Fremden zu dem treibt, was der Fremde nun mal tut, und dass du aufhörst, den starken Mann zu markieren und dich an die Regeln hältst wie wir alle hier, weil es sonst nicht funktionieren kann, und wir alle untergehen, und das lasse ich nicht zu, großes Ehrenwort.“

Marchant grinste und stemmte die Fäuste in die Hüfte. Bayes verdrehte hinter ihm die Augen und seufzte.

„Was soll das heißen?“ fragte er.

„Oh um Himmel Willen …“ stöhnte Kentub. Er hatte jetzt genug. Und er konnte nicht ganz leugnen, dass sich das besorgniserregend gut anfühlte.

Er nahm sich vor, das in Zukunft im Auge zu behalten.

„Weißt du“; sagte er, „Ich weiß gerade nicht, ob ich das ganz zu Ende gedacht habe, weil ich im Moment sehr aufgebracht bin, deswegen kann es sein, dass ich Einzelheiten übersehe, aber ich glaube, bei den meisten Entscheidungen kommt irgendwann der Punkt, an dem es weniger wichtig ist, wofür man sich entscheidet, als dass man endlich eine verdammte Entscheidung trifft, und ich glaube, dass Gerechtigkeit ein total schönes Ideal ist, aber dass Ordnung und klare Regeln auch manchmal ihre Vorteile haben, und weißt du, was ich noch glaube?“

Marchand schaute Kentub an, als würde er ernsthaft darüber nachdenken, ihm einen kalten Lappen auf die Stirn zu legen.

„Was?“ bellte er schließlich.

Auch Bayes schaute ihn mit erwartungsvoll geweiteten Augen an.

„Ich glaube, dass der Fremde vor allem ein Problem damit hat, wenn Jeanne gewaltsamen Zwang ausübt. Und ich glaube, ich werde diese Annahme jetzt gleich auf die Probe stellen.“

 

Eine ganz andere Zeitrechnung

Die Dienerinnen des Ersten Staates marschierten gleich einem endlosen Strom mit ihrer Last in die Höhlen des Zweiten Staates.

Ihr Pfad führte sie vorbei an den Gängen, die die Bauarbeiterinnen des südlicheren Staates durch den Eispanzer hindurch getrieben hatten, hinauf zu den Türmen, von denen aus die Beobachterinnen gen Himmel und gen Boden schauten und Wissen sammelten, das beiden Völkern zugutekam und das der Zweite Staat gegen Fungus des Ersten eintauschte.

Ihr Pfad führte sie vorbei an den Kriegerinnen des Zweiten Staates, jede größer als fünf von ihnen, ihre mit spitzen Spornen und scharfen Klingen bewehrten Arme länger als der ganze Körper der Dienerinnen. Es hatte seit vielen hundert Generationen keinen Krieg mehr gegeben zwischen den beiden Staaten, von gelegentlichen kleinen Streitigkeiten abgesehen, die bis auf drei alle beendet waren, bevor Kriegerinnen den Ort des Geschehens erreicht hatten. Dennoch führte der Pfad der Dienerinnen, die Fungus des Ersten Staates in die Lagerhöhlen des Zweiten Staates trugen, seit dem Concord an dem Lager der Kriegerinnen vorbei, und sogar die Dienerinnen, die für ihre Arbeit nicht viel Verstand benötigten, wussten, dass das kein Zufall war.

Der Erste Staat war immer noch der viel größere, mit beinahe fünfhundert Millionen Dzhreg gegenüber den nicht einmal siebzig Millionen des Zweiten, aber er hatte sich im Großen Krieg schließlich dessen größerer Variabilität geschlagen geben müssen.

Eine Zeitlang hatten die Dienerinnen des Ersten Staates ihren Weg unter Begleitung von Kriegerinnen gemacht, um der Drohgebärde des Zweiten etwas entgegen zu setzen, doch dieses Ziel war nicht einfach zu erreichen, wenn die eigenen Kriegerinnen nicht einmal halb so groß waren wie die, die man zu beeindrucken trachtete.

Doch die Kriegerinnen des Zweiten Staates waren nichts als eine reglose Warnung und ließen die Arbeiterinnen des Ersten Staates anstandslos passieren.

Sie erreichten mit ihrer Ladung aus essbarem Fungus die Lagerhallen des Zweiten Staates, riesige Höhlen, die durch ein komplexes System aus verschieden zu öffnenden und schließenden und teilweise aktiv ventilierten Belüftungsschächten stets einheitlich temperiert waren, um die Haltbarkeit der gelagerten Speise zu maximieren. Dort wurden sie von den wartenden Arbeiterinnen des Zweiten Staates angeleitet, ihre Last entsprechend dem dort herrschenden System abzuladen.

Augenscheinlich ohne jede Ladung kehrten die Dienerinnen zum Gebiet des Ersten Staates zurück, nachdem sie den Fungus an ihre Pendants übergeben hatten, und doch trugen sie eine kostbare Fracht, und sie begannen, sie zu entladen, sobald ihre Füße das Substrat ihres Heimatstaates berührten und die Nervenenden darin mit dem Kollektiv in Kontakt traten.

Das Kollektiv nahm die Informationen auf und legte manches davon für die zukünftige Verwendung ab. Manch anderes bewertete es als neu und unmittelbar nützlich, und begann, mögliche Wege zur Verwertung zu prüfen. Wieder anderes schien sich für keine unmittelbare Anwendung zu eignen, war aber zu ungewöhnlich, um einfach abgelegt zu werden.

Zu diesen Informationen gehörte der neue Stern, dessen Lichtspektrum so ganz anders war als das anderer bekannter Sterne, und der erst vor kurzer Zeit plötzlich entflammt zu sein schien.

Lesegruppenfragen:

  1. Hat wirklich niemand bemerkt, dass ich irgendwann im Lauf der Geschichte Kentub und Jole vertauscht habe, oder wart ihr nur zu höflich, mich dafür angemessen zu verspotten? Ich bleibt jetzt erst mal dabei, dass Kentub der Kapitän ist, in der Endfassung der Geschichte korrigiere ich das aber natürlich noch.
  2. Kommt es euch natürlich vor, dass die Besatzung Bücher über Erdgeschichte und -politik liest und ein paar Tierarten und so kennt, oder findet ihr, dass ich das mehr erläutern sollte? Oder beides? Beides ginge natürlich auch.
  3. Marchants Tätowierung ist vielleicht ein bisschen eigenartig auf so einem Schiff. Ich fand sie andererseits gerade deshalb gut. Und ihr?
  4. Natürlich wüsste ich euch gerne, wie die Beschreibung der beiden Staaten am Schluss auf euch wirkt. Wie wirkt die auf euch?

3 Kommentare zu “Generationenschiff (9)

  1. Vorweg: Schön, dass es endlich ein neues Kapitel gibt:-) Habe mich schon gefragt, wann es hier endlich weitergeht.

    So, und jetzt zu den Fragen und meinen Antworten darauf:

    1. Ist mir nicht aufgefallen, weil bei mir zu viel Zeit zwischen dem Lesen der einzelnen Kapitel liegt und ich mich beim Lesen erst wieder an die Figuren erinneren.
    2. Das mit den Sachen von der Erde ist mir beim Lesen schon aufgefallen. Vor allem den Hinweis aus Kennedy und die Wahlen fand ich seltsam, weil die Leute ja nie selber Demokratie erlebt haben. Ist es dann glaubwürdig, dass sie das so selbstverständlich anbringen und alle wissen, was damit gemeint ist? So ohne Erklärung, warum Demokratie für sie selbstverständlich sein sollte, ist das nicht unbedingt glaubwürdig. Schön fand ich den Hinweis auf mystische Wesen wie Drachen, Einhörner und Blauwale, eine schöne Kombination:-) Wobei, vielleicht würde es mit Pferden statt Einhörnern noch besser wirken?
    3. Die Tätowierung find ich völlig OK. Für mich wirkt das, als wäre das dort nicht unbedingt etwas seltsames. Möglicherweise haben alle irgendwo eine, wer weiß das schon?
    4. Hmm, als ich den Abschnitt über die beiden Staaten angefangen habe, war ich erstmal verwirrt, denn es ist ja ein neuer Handlungsstrang. Wahrscheinlich hätte es weniger verwirrend auf mich gewirkt, wenn dieser Abschnitt weiter vorne gewesen wäre, als man noch mit neuen Handlugnssträngen gerechnet hat. So war mein Gefühl ein wenig ein: Habe ich disen Handlungsstrang einfach vergessen oder kam der bisher noch nicht vor? Davon abgesehen fand ich ihn schön, er gibt der Geschichte nochmal ein anderes Ziel/zusätzliche Spannung.

    Soviel zu meinen Gedanken zu diesem Kapitel.

  2. Die gute Nachricht ist dann, dass es hier ab jetzt wieder mit kürzeren Abständen weitergehen wird. Die nicht so gute, dass ich noch nicht weiß, was genau das heißt, und das noch längere Abstände ja auch wirklich langsam kaum noch realistisch sind.
    Danke für deinen Kommentar ansonsten! Ich nehme die Hinweise dankbar an und beziehe sie in die Überarbeitung mit ein.

  3. Pingback: Generationenschiff (11) – Fabian Elfeld, Schriftsteller

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