Generationenschiff (13)


Heute habe ich nicht nur ein neues Kapitel, sondern auch eine Nachricht, die sich sowohl gut als auch nicht so gut deuten lässt: Ich habe gerade einen Vertrag mit einem (kleinen, sehr kleinen) Verlag unterschrieben, und ich werde da nun aller Voraussicht nach ein Buch veröffentlichen.

Das Gute daran ist, dass ich demnächst ein Buch veröffentlichen werde, und einen (kleinen, sehr kleinen) Schritt näher dran bin, ernsthaft ein Schriftsteller zu sein. Das Schlechte ist natürlich, dass es jetzt noch ein bisschen mehr eine Herausforderung wird, Zeit für diesen Fortsetzungsroman frei zu machen. Aber ich sehe zu, dass das mein Problem bleibt, und nicht eures wird. Ansonsten kriegt ihr euer Geld zurück. In voller Höhe. Ohne Wenn und Aber. Versprochen.

Viel Spaß mit dem neuen Kapitel!

Was bisher geschah

Im ersten Kapitel begleiteten wir Professor Rodney Advani zu einem Besuch bei Präsidentin Sima, um mit ihr über eine bedrohliche Entdeckung zu reden, lernten Kapitänin Tisha kennen, die ebenfalls gerade eine solche gemacht hat und dafür von Jeanne auf der Brücke eingeschlossen wurde, sahen Banja bei einer nicht sehr glücklichen Prüfung für seine Arbeit als Tinker zu, und wurden Zeuge, wie Jahre später  Jole und Kentub darüber beraten, wie sie mit den aktuellen Erkenntnissen über den Planeten umgehen, der das Ziel ihrer Mission sein sollte.

Im zweiten Kapitel hat Piedra zunächst einen Unfall bei einem Außeneinsatz und führt dann ein schwieriges Gespräch mit Psmith, und die Präsidentin entscheidet, die Idee einer KI zur Kontrolle der Mission weiter zu verfolgen.

Im dritten Kapitel debattiert der Besatzung der Humanity über die Vor- und Nachteile einer Landung auf Last Hope versus derer eines Weiterflugs zu einer anderen wirklich allerletzten Hoffnung, Piedra versucht vergeblich, mit Wu über ihren Verdacht gegen Smith zu reden und wendet sich deshalb an Tisha, die gerade gar keine Lust hat, mit so etwas behelligt zu werden, und im Übrigen ist Senator Bowman der Meinung, dass der Planemo vernichtet werden muss.

Im vierten Kapitel wimelt Tisha Piedra ab und sieht mit Jeanne zusammen ein Video von unfassbarer historischer Bedeutung, Nico und Banya fachsimpeln über die Erde und bekommen Besuch von Piedra, und in unserer Zeit versucht Jerry Martinez, die ihn ihre KI gesetzten Erwartungen zu dämpfen.

Im fünften Kapitel folgt Jeanne Kentubs Empfehlung, Tisha will dem Ruf der Natur eigentlich nicht folgen, und Piedra versucht vergeblich, Banya ihren Verdacht gegen Psmith zu erklären.

Im sechsten Kapitel gerät Piedra mit Psmith aneinander, Kentub und Jeanne mit Marchand, und Rodney mit Jerry Martinez.

Im siebten Kapitel verhört Jeanne erst Piedra und dann Tisha, Kentub und Jeanne gehen zu dem Fremden, und Jerry und Rodney diskutieren über die Rettung der Menschheit.

Im achten Kapitel verkündet Jeanne in einer Teambesprechung einige wichtige Neuigkeiten, Kentub versucht, mit dem Fremden zu diskutieren, und Jeanne ernennt ihn zum neuen Kapitän.

Im neunten Kapitel streitet sich Banja zuerst mit Piedra und sagt dann seinem Vater, dass er sie nicht will. Kentub hält das für keine gute Idee.
Später versucht Kentub, die Kampfhandlungen zwischen den verfeideten Fraktionen an Bord der Humanity zu beenden indem er Marchant seine Position nahebringt, während auf Last Hope die Dienerinnen des Ersten Staates von einem neuen Stern erfahren.

Im zehnten Kapitel verbünden Tisha und Piedra sich gegen Psmith, um dann von ihm überrascht zu werden (also, nicht in dem Sinne, das sie sich dafür verbündet haben… Ihr wisst schon. Ja, das ist eine blöde Formulierung. Ich gewöhn sie mir ab.), Rodney besucht die Einrichtung, in der die Kinder für die lange Reise vorbereitet werden, Banja meldet sich freiwillig, und Kentub ringt mit den Konsequenzen seiner Entscheidung.

Im elften Kapitel verabschiedet Banja sich von Nico, Kentub betritt Last Hope, und Rodney lernt Celia kennen.

Im zwölften Kapitel redet Psmith mit Tisha und Piedra, Kentub begegnet Jeanne auf Last Hope, seine Transportgelegenheit verstirbt, und Präsidentin Sima gibt ein Interview.

Was heute geschieht

06.68.149

Kentub trat näher an ihn heran. Zu nah. Was sollte das denn werden?

Marchant grinste und versuchte, seine Verwirrung nicht zu zeigen.

„Wenn du ernsthaft glaubst, du könntest mich einsch…“

Was war das? Es war … kalt? Hatte Kentub so kalte Hände? Aber sogar wenn, wie konnte er Marchant durch die Kleidung…?

Er blinzelte und blickte an sich herab.

Nanu. Wo war denn das Messer hergekommen? Und warum tat es überhaupt nicht weh? Er hatte gedacht, es würde weh tun, wenn einem jemand ein Messer in die Brust stieß. Aber es tat kein bisschen weh. Fühlte sich nur sehr kalt an. War das Messer besonders kalt? Lag es am Blutverlust? Aber so viel Blut hatte er noch gar nicht verloren. Oder konnte er das nur nicht sehen, weil es alles unter dem Overall…?

Moment.

Hatte Kentub ihn erstochen?

Ernsthaft?

Hatte diese unwürdige Entschädigung für einen Kapitän ihn tatsächlich erstochen?

Marchant hob seinen Blick und schaute in Kentubs Gesicht.

Der Kapitän sah ihn mit einem verschämten Lächeln an und zuckte andeutungsweise die Schultern. Als hätte er gerade die letzte Banane aus dem Obstkorb genommen, während Marchant schon danach griff.

„Du… Drecksack…“ sagte Marchant.

Er hatte sich vorgestellt, es zu brüllen. Er war wütend. Oder? War er wütend? Er fühlte sich vor allem müde, wie nach einem viel zu langen Training. Er sah die Beine von Kentubs Overall vor sich. Warum denn das? Hatte er nicht gerade noch sein Gesicht…?

Er sah Schuhe vor sich. Kentubs Schuhe, wahrscheinlich. Er fühlte das Messer an seiner Hand. Er hatte wohl danach gegriffen. Es fühlte sich kühl unter seinen Fingern an, aber nicht so kalt wie in seinem Herzen.

Er war sich nicht sicher, ob er die Kraft hatte, es heraus zu ziehen.

Aber vielleicht war es auch besser, es drin zu lassen. Er hatte gelernt, dass …

Schuhe.

Warum waren da Schuhe?

Der Boden des Ganges drückte sich kalt gegen seine Wange. Wärme floss wie das Leben aus seinem Körper in die Humanity und verteilte sich gleichmäßig in seiner Struktur.

Waren es seine Schuhe? Warum trug er sie denn nicht? Und waren seine Schuhe nicht größer?

Was war das da? Es war so kalt?

Schuhe.

Die Schuhe entfernten sich. Er sah ihnen nach. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, denn er wollte nicht, dass die Schuhe sich entfernten.

Er wollte nicht alleine sein.

Lass mich nicht allein.

Er hatte es sagen wollen, aber es ging nicht. Schuhe. Kommt zurück. Lasst mich nicht allein.

Ihm war so kalt.

Die Schuhe waren noch da. Aber er konnte sich nicht deutlich sehen. Dabei waren sie nicht einmal besonders weit weg.

Kommt zurück. Ich will nicht alleine sein. Mir ist kalt.

Kommt zurück.

Ich will nicht alleine

Sterben.

 

16.76.149

„Jeanne, du weißt, dass ich niemals vor der Crew Unsicherheit zeigen würde, aber hier ist ja gerade keine Crew, deshalb nimmst du mir sicher nicht übel, dass ich extrem verunsichert bin. Was war das gerade? Wer war das? Was ist da gerade passiert? Dem Ding ist nicht spontan von selbst der Kopf geplatzt, oder?“

Kentub lag in einer äußerst unbequemen Position eingeklemmt zwischen den Armen, die ihn schon zuvor gehalten hatten, und einem der Beine. Es hatte einen schrecklichen, kalten Moment gegeben, als das Wesen, das ihn trug, zusammenbrach, in dem er es für möglich gehalten hatte, dass es ihm das Rückgrat brechen würde, aber zu seinem Glück hatte es doch nur gereicht, um ihn in eine im doppelten Sinne sehr peinliche Lage zu bringen, aus der er sich mit hilflosem Gezappel und äußerst wenig Erfolg zu befreien versuchte.

Immerhin schützte ihn sein Thermoanzug vor der Kälte, doch sogar in dieser schützenden Hülle fand er den Wind noch unangenehm schneidend.

Jeanne stand noch immer mit rotierenden Kameras und Geschützen neben dem Kadaver und machte keine Anstalten, ihm zu helfen, konnte aber zumindest so viel Systemressourcen erübrigen, ihm zu antworten:

„Das Tier wurde von einem Projektil getroffen, das seinen Kopf durchschlagen hat und zwölf Meter weiter nördlich in die Schneedecke eingedrungen ist. Weiter konnte ich seinen Verlauf weder vor noch zurück verfolgen. Es ist möglich, dass es sich dabei um ein Projektil der Waffen handelt, die an Bord der Humanity verwahrt wurden, aber ich kann auch nicht ausschließen, dass es aus einer fremden Waffe stammt. In beiden Fällen besteht eine nicht vernachlässigbare Wahrscheinlichkeit, dass sich doch Mitglieder der Crew in der Nähe befinden. Sie sollten das bei Ihren Entscheidungen berücksichtigen.“

Kameras und Geschütze hielten in der Bewegung inne und richteten sich auf ein Ziel hinter Kentub aus. Er versuchte kurz, sich danach umzudrehen, erkannte aber schnell, dass das die Peinlichkeit seiner Lage in beiden Bedeutungen nur erhöhte, ohne ihn dem Ziel wesentlich näher zu bringen.

„Was siehst du?“ rief er, noch immer strampelnd und um sich schlagend – er hatte das Gefühl, dass der Kadaver um ihn ein wenig nachgab – „Was ist da, Jeanne? Kommt es näher? Ist es groß? Sind es viele? Kannst du vielleicht wenigstens ein bisschen näher kommen, damit ich mich an dir festhalten und mich hier rausziehen kann, verdammt?“

„Mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Menschen, mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Mensch, ja, ungefähr menschengroß, ich kann nur einen erkennen, ich werde aus Sicherheitsgründen vorerst stehen bleiben, denn Sie sind nicht in unmittelbarer Gefahr.“

„Woher willst du das wissen? Vielleicht wollten sie mich treffen und haben nur aus Versehen die Termite erwischt! Ich meine, ich bin hier offensichtlich die größte Bedrohung, oder?“

„Ihr Versuch von Humor zeugt von geistiger Stabilität, die Ihrer Position angemessen ist.“

„Meinst du, ich bin als Kapitän noch tragbar, wenn mir darauf gerade keine …“ Er stöhnte und schnaufte, während er sein linkes Bein aus der totem Umarmung der erschossenen Kreatur befreite, „… schlagfertige Antwort einfällt?“

Erleichtert sank er zusammen. Der Rest sollte jetzt kein Problem mehr sein. Natürlich dachte er daran, dass dies kein guter Zeitpunkt war, erleichtert zusammenzusinken, aber andererseits war er unbewaffnet und konnte deshalb keine Hilfe sein gegen eine Bedrohung, mit der Jeanne nicht alleine fertig werden konnte, und zu fliehen war zumindest ohne ihre Unterstützung genauso wenig eine Option. Solange sie ihre Position hielt, konnte er also keinen konstruktiven Beitrag leisten, der darüber hinausging, sich so gut er konnte um sich selbst zu kümmern. Dafür fühlte sich das erleichterte Zusammensinken in diesem Moment wie eine eindeutig zielführende Maßnahme an.

„Siehst du schon was?“

Genau so weit reichte die Kombination aus Kraft und Neugier noch.

 

10.68.149

Kalt. Kalt. Kalt. Er zitterte. Jeder einzelne Muskel in seinem Körper war unangenehm angespannt, seine Zähne klapperten buchstäblich, und … etwas war komisch.

Etwas war anders als sonst.

Seine Zähne klapperten anders. Da war mehr Widerstand. Da war … Wasser?

Er trieb in Wasser.

In kaltem Wasser.

Er fror.

Er öffnete die Augen – und vergaß sofort die Kälte. Seine unterkühlten Muskeln verspannten sich noch einmal stärker, als er krampfartig zusammenzuckte, und der Versuch seines Körpers, erschrocken Luft einzusaugen, zog unerwartet kalte Flüssigkeit in seine Lungen. Sein erster Reflex war zu husten, aber abgesehen von dem sonderbaren Gefühl viskoser Kälte irritierte das Wasser seine Atemorgane nicht.

Er konnte das Wasser atmen.

Aber sogar das nahm er kaum bewusst wahr.

Der Grund, aus dem er erschrocken den Mund aufgerissen und Wasser in seine Lunge gesogen hatte, war das Meer aus wogenden, bunt flackernden Tentakeln, das einen Großteil seines Blickfeldes einnahm.

Der Fremde.

Er war im Becken des Fremden. Direkt bei ihm im Wasser. Und die grässliche Kreatur blinkte und flackerte ihn an, aber er konnte es nicht …

Marchant blinzelte.

Er schüttelte langsam den Kopf und hob eine Hand ins Gesicht, um sich die Augen zu massieren. Etwas fühlte sich merkwürdig an. Noch merkwürdiger, als durch die Situation ohnehin schon gerechtfertigt war.

Etwas summte, kribbelte, zuckte in seinem Kopf. Und nicht nur da. Zum Zittern aufgrund der Kälte kamen krampfartige Bewegungen seiner Arme, seiner Beine, seiner Schultern, seines Kopfes, seiner Mimik. Sein Atem beschleunigte sich, immer mehr kaltes Wasser strömte durch Marchants Lungen und kühlte ihn weiter aus. Etwas geschah mit ihm.

Zukunft. Idee. Gedanke. Entwicklung. Veränderung.

Es war nicht, als würde er eine Stimme hören. Es war mehr, als würde er lesen, nur dass er keine Worte las, sondern … Konzepte. Bilder. Es war sehr verwirrend, und es tat nicht direkt weh, bereitete ihm aber großes, auf eine Weise auch physisches Unbehagen.

Nähe. Werkzeug. Aufgabe. Zukunft. Mission. Planet. Veränderung.

Wurde von ihm eine Antwort erwartet? Konnte er antworten? Was hatte der Fremde mit ihm gemacht?

Marchant schaute an sich herunter. Zumindest äußerlich hatte er sich nicht verändert. Nichts an ihm leuchtete farbig. Konnte der Fremde hören, sogar wenn es ihm gelingen sollte, unter Wasser Worte zu artikulieren?

Aber was sollte er auch sagen? Er verstand ja trotz allem nicht, was das Ungetüm ihm zu kommunizieren versuchte, falls das überhaupt seine Absicht war.

Nähe. Jetzt.

Er bewegte sich. Er bewegte sich auf die Tentakel zu. Er schaute sich um, aber er konnte keine Ursache für die Bewegung ausmachen, und auch nichts, woran er sich hätte festhalten können, um sie zu verhindern.

Die flackernden, wogenden Tentakel kamen immer näher, und er fühlte Panik wie etwas physisch Vorhandenes in sich aufsteigen. Wild paddelnd und um sich schlagend, versuchte er, sich wieder von dem grotesken Unwesen zu entfernen, aber nichts geschah.

Zukunft. Absichten. Werkzeug. Planet. Mission. Wissen. Projektion. Vermitteln. Verbergen. Veränderung. Jetzt.

Als ihn der erste Tentakel berührte, war der Gesamteindruck wie bei einem starken elektrischen Schock. Das eigentliche körperliche Gefühl war nicht wie herkömmlicher Schmerz, aber auf eine tiefer liegende, fundamentalere Art unangenehm. Als würde sein Verstand sich verzweifelt dagegen wehren, zur Kenntnis zu nehmen, was geschah, und dieses bizarre Gefühl war seiner gewohnten  Erfahrung der Welt und seiner Sinne so wesensfremd, dass es letztlich eine schlimmere Qual war, als der eigentliche Sinneseindruck hätte sein können.

Es dauerte nicht lange, bis die Tentakel ihn vollständig umschlungen hatten und ihn in ihr Inneres zogen.

 

12.39.97

„Was soll das werden, Psmith?“

Wäre dies einer der Filme oder Bücher gewesen, die zum Unterhaltungsprogramm der Humanity gehörten, hätte sie erwartet, dass er eine Waffe zog, um sie und Tisha damit zu bedrohen, so gestört und bedrohlich empfand sie seinen Habitus.

Aber alle Waffen an Bord waren sicher verwahrt, und sogar falls es ihm gelungen sein sollte, eine zu entwenden – was sie jemandem mit seinem technischen Geschick nicht zutraute – wäre es Wahnsinn, sie bei sich zu tragen, weil Jeanne ihn in Stücke reißen würde, sobald sie dahinter kam. Und sie würde garantiert nicht lange brauchen, um dahinter zu kommen.

Trotzdem war sie ein bisschen enttäuscht von seiner Reaktion. Wu hatte ihr oft gesagt, dass ihre Abenteuerlust nicht gesund war.

Statt eine Pistole oder ein paar Stangen Dynamit mit einem blinkenden Timer aus der Tasche zu ziehen, zog Psmith nur eine Ansprache, offenbar nicht zum ersten Mal.

„Das Ende dieses widerlichen Experiments“, antwortete er. „Wir sind nichts als Figuren im Spiel anderer, und ich denke, wir haben das Recht darauf, unser eigenes Leben zu haben, mit unseren eigenen Zielen, in einer großen, freien Welt voller Möglichkeiten, und nicht nur in diesem… Druckkessel, den die für uns gebaut haben. Wir haben das Recht, uns das zu nehmen. Ich glaube, dass…“

„Er klingt wirklich wie Banja“, unterbrach ihn Piedra, „Nur ein bisschen wahnsinniger. Merkwürdig. Ich hab die beiden immer so unterschiedlich wahrgenommen.“

Er sah sie an, als wisse er nicht, ob er von ihrer Reaktion enttäuscht sein sollte, oder sich freuen, dass sie ihn in seiner Geringschätzung und Überheblichkeit bestätigte.

„Eigentlich wollte ich euch nicht dabeihaben“, sagte er. „Ich hätte nicht gefragt. Ich war nicht sicher genug, auf wessen Seite ihr steht. Aber jetzt habe ich gedacht, nachdem, wie Jeanne dich behandelt hat“, er sah erst zu Tisha, dann zu Piedra, „Und wie sie mit dir umgegangen sind… dachte ich, wenn ihr sowieso schon halb dahintergekommen seid, gebe ich euch eine Chance.“

Piedra und Tisha sahen einander mit besorgt gehobenen Augenbrauen an.

Er schüttelte den Kopf und seufzte.

„Glaubt ihr wirklich, dass das echt sein kann?“

„Hä?“ machte Piedra.

„Oh nein, sags nicht“, stöhnte Tisha.

„Glaubt ihr wirklich, dass wir…“ Er hob pathetisch die Arme und begann, mit sonorer, schwülstiger Erzählerstimme zu sprechen, „die letzten Überlebenden einer globalen Katastrophe und die letzte Hoffnung der Menschheit sind und dass das Fortbestehen alles intelligenten Lebens im Universum nur von uns abhängt?“

„Sicher nicht“, antwortete Tisha trocken. „Wir haben ziemlich sicher gerade nichtmenschliches intelligentes Leben gefunden.“

Er schüttelte den Kopf.

„Ihr wisst, wie ich das meine. Die ganze Geschichte ist doch Unfug. Nur damit wir auch motiviert sind, ihr bescheuertes Spiel mitzuspielen. Ist eure Sache, ob ihr drauf reinfallt oder nicht.“

„Warum erzählst du uns das eigentlich?“

Er schnaubte und zuckte die Schultern.

„Weil es jetzt zu spät ist und ich selbst eure Gesichter sehen wollte.“

 

16.76.149

Kentub blinzelte. Und blinzelte noch einmal. Und noch einmal.

„Das… kann doch nicht…“

Ein langsames Nicken antwortete ihm.

„Marchant?“

Noch ein langsames Nicken.

Kentub stöhnte. Schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Immer noch da. Verflixt.

„Der Fremde?“

Langsames Nicken.

„Er… hat dich wiederbelebt? Oder haben die endozirkulären Maschinen gereicht?“

„Der Fremde.“

Kentub schaute ihn an, und suchte in seinem Gesicht nach Marchant. Er war nicht der größte Menschenkenner auf diesem Planeten – hoffentlich -, aber er gewann den Eindruck, dass nicht mehr viel da war. Jedenfalls weniger, als er in Erinnerung hatte.

„Er hat dich verändert, oder?“

Marchant nickte, ohne Zögern, ohne jeden Versuch, etwas zu erklären, zu verteidigen oder zu beschönigen.

Kentub fragte sich, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.

„Ist er … da drin?

Marchant grinste.

„Nicht genug, dass ich vergessen hätte. Oder vergeben.“

Kentub seufzte.

„Wir müssen das aber nicht gleich jetzt regeln? Dafür ist genug in dir drin?“

„Teile von ihm sind in allen von uns.“

Kentub zog die Brauen zusammen.

„Wir reden über das Alien, das in einem Wassertank auf unserem Schiff lebt, richtig? Du hast nicht irgendeine dumme neue Religion aufgemacht? Oder meinst du die Maschinen? Dann hast du aber eine sonderbare…“

„Du verstehst nicht.“

„Ja, liebe Güte, deshalb frag ich doch…“

Diesmal war es nicht Marchants Bass, sondern Jeannes monotoner Alt, der ihn unterbrach.

„Ich erkenne die Bedeutung dieses Gesprächs und den potentiellen Informationsgewinn, empfehle aber, es an einem sichereren Ort fortzusetzen.“

Kentub wandte sich ihr zu, während Marchants Blick in seinem Gesicht hängen blieb, mit etwas mehr Intensität, als für Marchant – oder nach Kentubs Einschätzung irgendeinen Menchen – noch vertretbar gewesen wäre. Er entschied, es erst einmal zu ertragen.

„Sagst du das nur so aus einer allgemeinen Risikoabwägung heraus, oder hast du konkrete Informationen, die uns noch nicht zugänglich sind?“

„Ich bin überzeugt davon, dass sich Artgenossen des verstorbenen Wesens nähern.“

„Wahrscheinlich mehr, als … Marchant hier bequem weiterem Versterben zuführen kann?“

„Erheblich mehr.“

Kentub nickte.

„Klare Antwort.“

Er stöhnte, stützte sich auf den eisigen Boden und rappelte sich auf, so würdevoll er konnte.

„Ich kann deine Einwände teilweise schon erahnen, bevor du sie erhebst, aber meinst du, wir können während unserer Flucht ausnahmsweise einmal auf dir reiten? Wir erzählen auch niemandem davon. Und wir müssen auch nicht da Wort benutzen, wenn dir ein anderes lieber ist.“

Jeanne stakste auf ihren sechs Beinen durch den Schnee auf die beiden zu – die Puffer darunter waren für den Stahlboden der Humanity gedacht, und ihm gefiel die Vorstellung, ihr irgendwann Schneeschuhe zu schenken -, und blieb neben Kentub stehen. Ihre Kameras richteten sich mit einem Ausdruck von kalter Herablassung auf ihn, den er sich natürlich vollständig einbildete, weil sie nicht einmal eine Möglichkeit hatte, so etwas wie Mimik zu zeigen.

„Sie können hinter den torsoähnlichen Aufbauten aufsteigen und sich daran festhalten. Bitte berühren Sie nicht die Kameras oder andere Sensoren. Sollte ich durch Ihr Gewicht zu tief in den Schnee einsinken, werde ich Sie auffordern, abzusteigen. Sie werden dieser Aufforderung unverzüglich nachkommen.“

Kentub drehte sich zu Marchant um.

„Ich wette, der Fremde lässt dich nie auf sich reiten.“

Den Ausdruck von kalter Herablassung in Marchants Gesicht bildete er sich eindeutig nicht nur ein.

Lesegruppenfragen

  1. Wie fandet ihr die erste Szene so, in der Marchant stirbt? War euch das zu impressionistisch, oder ging der Stil?
  2. Hat sich eure Wahrnehmung von Marchant verändert? Falls ja, wie?
  3. Findet ihr, dass ich das mit Psmith zu lang hinausziehe?
  4. Vergesst es. Ich lasse euch nicht auf Jeanne reiten.
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2 Kommentare zu “Generationenschiff (13)

  1. So, das hatte ich mir als Ostergeschenk aufgehoben 🙂

    1. Nein, das fand ich eigentlich sehr gelungen. Vielleicht ein gaanz klein bisschen lang, aber ich wüsste nichts, was ich weglassen würde, und ich stelle mir Sterben irgenwie immer zu lang vor, dafür, was dabei rauskommt.

    2. Nicht wirklich, nein. Aber ich war beim ersten Lesen auch sehr verwirrt und überrascht von dem Geschehen und seiner zeitlichen Anordnung. Not in a bad way.

    3. Nein, gar nicht, das läuft in einem guten Takt mit/nebenher/vorneweg… äh.

    4. Och bitttteeeeeeee! Nur ganz kurz! (Was für eine schöne Idee, hihi! Jetzt will ich plötzlich die Verfilmung sehen.)

  2. 1. „Warum waren da Schuhe?“
    Das hat mich auch gewundert. Nachdem die Besatzungsmitglieder bei der Mannschaftsversammlung in Kapitel 3 barfuss sind („Es half ihr, ihre Zehen in die saftige schwarze Erde zu graben, während sie sprach.“ Dazu passt auch, dass ganz am Anfang Colonel Sanders durchs Bild läuft.), hatte ich erwartet dass alle die ganze Zeit so herumlaufen.
    2. Nein. Erst stirbt er eben und nachher (auf dem Planeten) ist er ja nicht mehr er selbst. Oder nicht nur. Oder so.
    3. Du fragst die Leser dieses Fortsetzungsromans ob du etwas zu lang hinausziehst? Hm.

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