Generationenschiff (15)


Ja gut. Mit Generationenschiff geht es immer noch sehr schleppend voran. Das tut mir leid. Aber die andere Sache läuft immerhin auch noch: Demnächst treff ich einen Lektor, und irgendwann danach dürfte ein neues Buch von mir erscheinen. Ganz. Am Stück. Alles gleichzeitig, zum Lesen so schnell oder langsam ihr wollt. Nicht schlecht, oder? Aber bis dahin gibts immer noch nur die Happen, die ich euch hinwerfe. Hier ist einer:

Was bisher geschah

Im ersten Kapitel begleiteten wir Professor Rodney Advani zu einem Besuch bei Präsidentin Sima, um mit ihr über eine bedrohliche Entdeckung zu reden, lernten Kapitänin Tisha kennen, die ebenfalls gerade eine solche gemacht hat und dafür von Jeanne auf der Brücke eingeschlossen wurde, sahen Banja bei einer nicht sehr glücklichen Prüfung für seine Arbeit als Tinker zu, und wurden Zeuge, wie Jahre später  Jole und Kentub darüber beraten, wie sie mit den aktuellen Erkenntnissen über den Planeten umgehen, der das Ziel ihrer Mission sein sollte.

Im zweiten Kapitel hat Piedra zunächst einen Unfall bei einem Außeneinsatz und führt dann ein schwieriges Gespräch mit Psmith, und die Präsidentin entscheidet, die Idee einer KI zur Kontrolle der Mission weiter zu verfolgen.

Im dritten Kapitel debattiert der Besatzung der Humanity über die Vor- und Nachteile einer Landung auf Last Hope versus derer eines Weiterflugs zu einer anderen wirklich allerletzten Hoffnung, Piedra versucht vergeblich, mit Wu über ihren Verdacht gegen Smith zu reden und wendet sich deshalb an Tisha, die gerade gar keine Lust hat, mit so etwas behelligt zu werden, und im Übrigen ist Senator Bowman der Meinung, dass der Planemo vernichtet werden muss.

Im vierten Kapitel wimelt Tisha Piedra ab und sieht mit Jeanne zusammen ein Video von unfassbarer historischer Bedeutung, Nico und Banya fachsimpeln über die Erde und bekommen Besuch von Piedra, und in unserer Zeit versucht Jerry Martinez, die ihn ihre KI gesetzten Erwartungen zu dämpfen.

Im fünften Kapitel folgt Jeanne Kentubs Empfehlung, Tisha will dem Ruf der Natur eigentlich nicht folgen, und Piedra versucht vergeblich, Banya ihren Verdacht gegen Psmith zu erklären.

Im sechsten Kapitel gerät Piedra mit Psmith aneinander, Kentub und Jeanne mit Marchand, und Rodney mit Jerry Martinez.

Im siebten Kapitel verhört Jeanne erst Piedra und dann Tisha, Kentub und Jeanne gehen zu dem Fremden, und Jerry und Rodney diskutieren über die Rettung der Menschheit.

Im achten Kapitel verkündet Jeanne in einer Teambesprechung einige wichtige Neuigkeiten, Kentub versucht, mit dem Fremden zu diskutieren, und Jeanne ernennt ihn zum neuen Kapitän.

Im neunten Kapitel streitet sich Banja zuerst mit Piedra und sagt dann seinem Vater, dass er sie nicht will. Kentub hält das für keine gute Idee.
Später versucht Kentub, die Kampfhandlungen zwischen den verfeideten Fraktionen an Bord der Humanity zu beenden indem er Marchant seine Position nahebringt, während auf Last Hope die Dienerinnen des Ersten Staates von einem neuen Stern erfahren.

Im zehnten Kapitel verbünden Tisha und Piedra sich gegen Psmith, um dann von ihm überrascht zu werden (also, nicht in dem Sinne, das sie sich dafür verbündet haben… Ihr wisst schon. Ja, das ist eine blöde Formulierung. Ich gewöhn sie mir ab.), Rodney besucht die Einrichtung, in der die Kinder für die lange Reise vorbereitet werden, Banja meldet sich freiwillig, und Kentub ringt mit den Konsequenzen seiner Entscheidung.

Im elften Kapitel verabschiedet Banja sich von Nico, Kentub betritt Last Hope, und Rodney lernt Celia kennen.

Im zwölften Kapitel redet Psmith mit Tisha und Piedra, Kentub begegnet Jeanne auf Last Hope, seine Transportgelegenheit verstirbt, und Präsidentin Sima gibt ein Interview.

Im dreizehnten Kapitel sehen wir die Ereignisse zwischen Kentub und Marchant noch einmal aus Marchants Perspektive, Marchant rettet ihn auf Last Hope, und Psmith erklärt weiter seinen diabolischen Plan. Der Schuft.

Im vierzehnten Kapitel berät die Präsidentin über Methoden zur Konservation der Besatzung, Marchant und Kentub reiten auf Jeanne über Last Hope und werden verfolgt, und Psmith wird endlich fertig damit, seinen diabolischen Plan zu erklären. Der Schuft.

Was heute geschieht

13.39.97

„Besatzung der Humanity, Sie werden unverzüglich jede Tätigkeit einstellen, die Sie derzeit ausführen und sich auf diese Anweisung konzentrieren. Dies ist keine Übung, dies ist kein Scherz, und dies ist auch keine Fehlfunktion meiner Entscheidungsprozesse. Ich habe soeben Ihren Zugang zu den Wasserreserven des Schiffes beendet. Die Integrität des Systems ist kompromittiert, sämtliche Wasserreserven der Humanity sind potentiell kontaminiert. Ich werde nach Möglichkeiten zur Reinigung der Vorräte und zum Bereitstellen trinkbaren Wassers suchen und Sie über den Fortschritt auf dem Laufenden halten.

Alle Versuche, gegen diese Anweisung zu verstoßen, werde ich mit der äußersten noch angemessenen Härte ahnden. Ich hoffe allerdings darauf, dass dies nicht nötig sein wird, da schon die Einsicht, dass der Verzehr vergifteten Wassers nicht erstrebenswert ist, Sie von Verstößen abhalten dürfte, solange Sie noch über die geistigen Kapazitäten verfügen, diese Abwägung zu treffen. Tisha, Sie werden zur Beseitigung eventuell entstandener Zweifel nun bestätigen, dass keine Störung meiner Entscheidungsprozesse erkennbar ist.“

„Ich … fürchte, mit Jeanne ist … im üblichen Rahmen alles in Ordnung. Wir müssen tatsächlich davon ausgehen, dass die Vorräte kontaminiert sind, und ich sehe auch keine sinnvolle Alternative.“

„Kentub, Sie werden der Besatzung nun Ihre Einschätzung mitteilen.“

„Ich stimme Tisha vorbehaltlos zu.“

„Bis eine nachhaltigere Lösung gefunden wurde, werden Sie keine trinkbaren Flüssigkeiten, insbesondere keine austretenden Körperflüssigkeiten, mehr dem Recycling-System zuführen, sondern diese stattdessen in geeigneten Gefäßen verwahren, um eine möglichst lange Überlebensdauer der Besatzung zu gewährleisten. Sollten Sie nicht über geeignete Gefäße verfügen, werden Ihnen solche zur Verfügung gestellt werden. Weitere Anweisungen über den Umgang mit den derart verwahrten Flüssigkeiten werden in Kürze nachfolgen. Sollten Sie über Vorräte trinkbarer Flüssigkeiten verfügen, wie etwa in Gefäße abgefülltes Trinkwasser, werden Sie diese unverzüglich melden und zur zentralisierten Rationierung und Aufteilung Kapitän Kentub zur Verfügung stellen.

Auch Verstöße gegen diese Anweisung werden von mir mit der äußersten noch angemessenen Härte geahndet werden.“

 

„A propos äußerste angemessene Härte … Was machen wir denn eigentlich mit Psmith?“ fragte Kentub.

Jeanne antwortete: „Zunächst ist noch eine eingehende Befragung erforderlich, um den Schaden möglichst einzugrenzen. Auf Basis der nach Abschluss der Befragung vorliegenden Information wird eine bessere Entscheidung möglich sein.“

Kentub schaute versonnen auf die Armlehne und kratzte mit dem Nagel seines Zeigefingers an einem Kratzer darin herum.

„Wir hatten noch nie ein ernstes Verbrechen. Und jetzt haben wir … versuchten Genozid? Oder nennt man es noch mal anders, wenn es um eine ganze Spezies geht? Speziozid?“

„Ich glaube, nicht“, antwortete Tisha.

Sie hatte versucht, ihm gegenüber am Konferenztisch sitzen zu bleiben. Dann hatte sie versucht, auf und ab zu tigern, aber es war ihr zu unangenehm, permanent um Jeanne herum tigern zu müssen, deshalb stand sie nun mit verschränkten Armen an eine defekte Konsole gelehnt.

„Wir könnten ihn ins All bringen, damit er sich selbst davon überzeugen kann, dass die Humanity ein echtes Schiff im echten Weltraum ist, und dann könnten wir seine Überreste drinnen vorzeigen, um es auch allen anderen zu beweisen, die eventuell seinem gestörten Kult anhängen.“

„So funktionieren Verschwörungskulte nicht.“

„Ich weiß.“ Kentub seufzte. „Lass mich einfach einen Moment träumen, dann kann ich wieder arbeiten.“

Jeanne sagte: „Ob eine Rehabilitation für Psmith noch möglich ist, steht in Zweifel. Im Lichte der übergeordneten Zielsetzung der Rehabilitation der übrigen Anhänger und Anhängerinnen seiner Überzeugungen ist auch fraglich, ob wir sie als wünschenswert einordnen sollten, oder sie zugunsten der abschreckenden Wirkung einer harten Strafe zurückstehen muss.“

„Wir haben nur einen echten Mediziner an Bord, und mit der abschreckenden Wirkung von Strafen ist es eh nicht weit her, soviel wir wissen. Müsste es nicht überzeugend wirken, wenn er vor sie tritt und alles zurücknimmt und erklärt, dass er eingesehen hat, dass die Mission echt ist?“

Tisha hatte keine große Hoffnung, Jeanne von den Vorteilen der Milde überzeugen zu können, und sie war selbst kein Fan von Psmith, aber einen Versuch wollte sie zumindest unternehmen.

Vielleicht würde Kentub sie ja sogar unterstützen.

„Vorher muss er natürlich noch fünf Mitverschwörer benennen, und wir sollten aufpassen, dass man die Spuren der Folter bei seinem Auftritt nicht sieht.“

Tisha schnitt eine Grimasse und stöhnte.

„Bist du wirklich überfordert damit, deine Comedy-Nummer kurz zu unterbrechen, um die Chance ein bisschen zu erhöhen, dass wir nicht alle qualvoll sterben?“

Kentub zuckte die Schultern und wiegte den Kopf seitlich von einer Schulter zur anderen.

„Kommt auf die Qualität der Pointe und die Höhe des Beitrags an, den ich sonst leisten könnte.“

„Jeanne, bitte mach was!“

„Schon gut, schon gut, ich spiel wieder mit. Ich glaube aber wirklich, dass wir ihn nicht in vertretbarer Zeit dazu kriegen, aufrichtig zu widerrufen, und dass alles andere auf verschiedene Weisen furchtbar schiefgehen kann. Zum Glück gibt es eine Möglichkeit, sowohl das Problem mit dem vergifteten Wasser zu beheben, als auch Zweifel an der Realität des unser Schiff umgebenden endlosen Vakuums zu beseitigen, und eventuell sogar unser Psmith-Problem zu lösen.“ Nach einer kurzen Pause weiteten sich Kentubs Augen, als ihm etwas klar wurde, und er fügte hinzu: „Ich meine nicht die Variante, dass wir alle verdursten. Ich meine das andere. Jeanne?“

„Das Treffen mit den Fremden ist erst für 34.44.97 geplant. Die beste mir zugängliche Schätzung erlaubt eine Beschleunigung des Vorgangs bis 91.42.97. Ob die Fremden eine darüber hinaus gehende Verkürzung der erforderlichen Prozesse erreichen können, ist nicht bekannt. Im Interesse einer möglichst umfassenden Grundlage für die Entscheidung habe ich die Information erfragt und werde Ihnen die Antwort mitteilen, sobald ich sie erhalte.“

Kentub nickte. „Woran man sieht, dass wir vielleicht vorerst nicht zu viel Zeit auf das Philosophieren über Psmiths angemessene Behandlung verwenden sollten, weil derzeit noch alles dafür spricht, dass wir die lieber damit zubringen sollten, über unser Leben nachzudenken und unseren Nächsten zu sagen, wie sehr wir sie lieben. Und Urin zu horten natürlich.“

Tisha verdrehte die Augen. „Jeanne, wenn du deine Entscheidung noch mal überdenken willst, ihn zum Kapitän zu machen, stehe ich, wenn auch wiederwillig, noch zur Verfügung.“

 

17.76.149

„Hast du das gerade auch so verstanden, dass sie uns gesagt hat, dass wir überflüssig sind?“

Marchant sah Kentub nicht einmal an, und auch Jeanne zeigte keinerlei Reaktion. Kentub zuckte die Schultern.

„Na gut. Dann warten wir eben einfach ab, bis sie da sind, und mit uns machen, was immer sie mit uns machen wollen.“

Es war ein beeindruckender Anblick, dachte Kentub, bis die Kreaturen näher kamen. Bis er Einzelheiten erkennen konnte.

Als er genauer sehen konnte, was da auf sie zukam, korrigierte er von „beeindruckend“ zu „grauenvoll“.

Die Wesen waren riesig. Das Ding, das ihn entführt hatte, war ihm schon groß vorgekommen, aber diese hier waren gigantisch. Sie hatten Fangarme mit widerhakenbesetzten scharfen Kanten, länger als sein ganzer Körper. Ihre Mandibeln sahen aus, als könnten sie ihn mit einem Biss in zwei Hälften teilen. Vielleicht sogar Jeanne. Er hoffte, dass ihr Titankörper so robust war, wie sie alle einmal gelernt hatten, aber diese Monster sahen so aus, als könnten sie sogar mit ihr fertig werden.

„Kann ich meinen Dank noch mal zurücknehmen?“

„Er bedeutet nichts“, antwortete Marchant. „Sag, was immer dir hilft, mit der Situation umzugehen.“

„Ich nehme meinen Dank zurück.“

Als er sicher war, dass er keine Antwort mehr erhalten würde, fragte er Jeanne:

„Glaubst du, wir können irgendetwas tun, um das Risiko zu minimieren?“

„Für eine solche Einschätzung wären Informationen über die potentielle Bedrohung erforderlich.“

Kentub zögerte nur kurz, bevor er widersprach: „Ja, meine Güte, bin ich denn die einzige unvernünftige Person auf diesem ganzen scheußlichen Planeten? Wir haben doch sogar Informationen! Es sind nicht viele, aber falls jemand gerade etwas Besseres zu tun hat als wild zu spekulieren, dann nur zu.“

Niemand hatte etwas Besseres zu tun.

„Also, spekulieren wir: Sie leben auf diesem eisigen Planeten, mutmaßlich unter dem Eis, oder es gibt nur sehr wenige, oder … Na gut, jedenfalls haben wir bisher keine Anzeichen für ihre Präsenz beobachtet. Ich habe nie gesagt, dass wilde Spekulation eine besondere Stärke von mir wäre. Sie sehen aus wie sehr große Termiten, oder Ameisen, und sie scheinen tatsächlich in irgendeiner Art von … sozialen Strukturen zu leben: Es kommt mir deshalb angemessen vor, bis auf Weiteres anzunehmen, dass sie auch ansonsten ähnlich funktionieren wie diese Tiere. Dass sie also zum Beispiel ein Exoskelett haben, dass sie irgendwie kommunizieren, vielleicht gibt es sogar eine Königin. Jeanne, hast du bis dahin Einwände?“

„Ihre Überlegungen scheinen folgerichtig und in Ermangelung widerstreitender Empirie wie ein nicht abwegiger Ansatz für ein Modell zur weiteren Überprüfung.“

„Kannst du irgendetwas beisteuern? Zum Beispiel das mit der Königin, könnte strategisch relevant werden, scheint mir. Kannst du etwas dazu sagen, ob die Dinger, die wir bisher gesehen haben, sich fortpflanzen könnten?“

„Eine Analyse der bisher vorliegenden Sensorendaten legt in der Tat die Präsenz von Fortpflanzungsorganen nicht nahe.“

„Gut. Danke. Das merken wir uns. Dann arbeiten wir jetzt also von dieser Hypothese aus.“ Kentub versuchte, sich zu Marchant umzudrehen, aber es war zwecklos. Vielleicht wäre es ihm trotz der Bewegung gelungen, wenn er leichter bekleidet gewesen wäre, aber der schwere Kälteschutzanzug verbarg ihm auch dann die Sicht auf seinen Hintermann, wenn er sich verdrehte, bis es weh tat. Vielleicht war es besser so. Die beiden saßen wirklich nah aneinander gedrängt. „Marchant, bist du auch einverstanden? Weiß der Fremde vielleicht mehr?“

„Der Fremde teilt auch mit mir nur, was er angemessen findet, und seine Wege sind mir nicht weniger rätselhaft als dir.“

„Manchmal frage ich mich ganz aufrichtig, warum ich mir die Mühe gemacht habe, dich zu erstechen.“

„Es tut mir leid, dass all der Aufwand an mich verschwendet war.“

„Jeanne, ist er wirklich ein bisschen lustiger geworden, oder hatte er schon immer Humor und ich habe das nur nicht bemerkt, weil er mich als Feind betrachtet hat?“

„Ich schließe mich der ersteren Einschätzung an, gebe aber zu bedenken, dass derzeit andere Fragen dringender Beachtung erfordern.“

„Ein in meinem Leben immer wieder auftauchendes Thema.“

„Völlig unverständlich, warum.“

Kentub machte eine Geste in Richtung Marchant und sagte: „Siehst du?“

Die ersten der Kreaturen verlangsamten ihren Schritt, wichen ab, um sie zu umrunden und begannen, einen Kreis von gut vierzig Meter Radius um Kentub, Marchant und Jeanne zu bilden.

„Das gehört noch zum Plan, oder, Jeanne? Wir warten jetzt einfach ab, was sie tun, und damit, dass sie uns jeden Fluchtweg abschneiden, haben wir natürlich gerechnet?“

„Positiv.“

„Ich mag die Einstellung, mit der du an potentielle Probleme herangehst.“

„Die gab es zu kaufen.“

„Atavistisches Konzept. Ob es wohl jemals wiederkommt?“

„Die Missionsparameter enthalten diese Annahme, sind aber gegenüber Abweichungen tolerant.“

„Hoffen wir, dass unsere neuen Freunde hier ähnlich an Überraschungen herangehen. Wenn sie wirklich ähnlich ticken wie irdische staatenbildende Insekten, besteht zumindest eine Chance, dass sie den Schaden, den wir bisher angerichtet haben, nicht zu hoch bewerten. Anderenfalls … Ob sie wohl wissen, wer von uns ihren Kameraden erschossen hat? Oder Kameradin, wahrscheinlich? Falls die Unterscheidung hier überhaupt einen Sinn hat? Ich extrapoliere weiter von irdischen Termiten.“

„Ich wäre bereit, mich zu stellen“, sagte Marchant.

„Ich finde, jeder von uns sollte maximal einmal für die Mission sterben müssen, will aber nicht ausschließen, dass ich auf das Angebot noch zurückkomme.“

Nach einer Pause fügte Kentub hinzu: „Oder glaubst du, der Fremde würde dich retten? Vielleicht sogar uns beide? Kann er das überhaupt? Oder sitzt er auch fest?“

„Sie kommen näher“, sagte Marchant statt einer Antwort.

„Aber nicht alle?“ Kentub drehte sich mit gerunzelter Stirn von links nach rechts, soweit er das in seiner Position auf Jeannes Rücken konnte, um einen Überblick zu gewinnen.

„Der gesamte Schwarm bewegt sich“, stellte Jeanne fest.

„Wollen sie, dass wir mitkommen?“ fragte Kentub.

„Diese Vermutung scheint die plausibelste Erklärung zu sein.“

„… und du gehst jetzt auch mit? Sollten wir das nicht zusammen entscheiden?“

„Ich werde vorerst der Bewegung des Schwarms folgen, bis zusätzliche Informationen eine Änderung meines Vorgehens nahelegen, oder sich eine Gelegenheit zur Flucht ergibt.“

„Das klingt einerseits offensichtlich vernünftig, andererseits aber auch unbefriedigend und frustrierend. Du hast wirklich keine Möglichkeit, einfach … Weiß ich nicht, mit uns hier wegzufliegen, oder mit einem nuklearen Gefechtskopf den ganzen Schwarm auszulöschen?“

„Ich verfüge über keine Flugfähigkeit und würde meine nukleare Kapazität nur im äußersten Notfall einsetzen.“

Für einige Sekunden vergaß Kentub seine akuten Sorgen und starrte mit offenem Mund auf die Maschine hinab, die er ritt, während er darüber nachdachte, wie sehr er sich mit der Frage zum Narren machen würde, ob sie das ernst meinte.

Er entschied nach wenigen Minuten, dass die Antwort „viel zu sehr“ lautete, und nutzte die Zeit stattdessen sinnvoller, indem er beobachtete, was um ihn herum geschah.

Der Schwarm bewegte sich tatsächlich sehr ähnlich irdischen Ameisen, soweit er sich an die Videos erinnern konnte, die er an Bord der Humanity gesehen hatte. Er bildete eine Art Straße mit recht klaren Rändern, bewegte sich aber innerhalb ihrer Grenzen nicht sehr geordnet. Hin und wieder kletterte sogar eine der riesigen Kreaturen über eine andere, ohne dass es die Beteiligten besonders zu stören schien. Es schien, als würden sie zwar den gleichen Signalen folgen, aber doch unabhängig voneinander und ohne auf die anderen zu achten.

Die Kreaturen hielten einen Abstand von ungefähr zehn Metern zu Jeanne und ihren beiden Reitern, und führten sie in einer geraden Linie über die Schneewüste, möglicherweise auf ein Ziel zu, aber Kentub konnte zumindest keines erkennen.

„Jeanne, meinst du nicht, dass es sich lohnen könnte, einmal auszuprobieren, wie sie reagieren, wenn wir versuchen, auszubrechen?“

„Weil du denkst, dass sie nur zufällig um uns herum strömen und uns einfach gehen lassen?“

Kentub verkniff es sich, eine Grimasse zu ziehen.

„Ich rechne nicht damit, aber es ist eine Möglichkeit. Und sogar wenn nicht, bin ich ziemlich sicher, dass sie nicht als erste Reaktion gleich auf Jeanne springen und uns die Köpfe abbeißen. Deshalb können wir sogar im schlechtesten Fall etwas draus lernen. Oder … im zweitschlechtesten Fall zumindest.“

Jeanne reagierte nicht.

Kentub erwog kurz, sie zu fragen, warum, fand es dann aber zu offensichtlich, dass sie die Gefahr seines Verlustes als geringer einschätzte als den Nutzen des zu erwartenden Informationsgewinns, wenn sie den fremden Kreaturen folgte.

Ob sie auch ihren eigenen Wert für die neue Siedlung gering genug einschätzte, um ihn so aufs Spiel zu setzen, oder vielleicht einfach wusste, dass die Mandibeln und eventuellen anderen Waffen der Kreaturen nicht imstande waren, ihren eigenen Titanpanzer zu verletzen, fand er weniger offensichtlich, und beinahe hätte er doch noch gefragt, als er bemerkte, dass bei den Kreaturen im vorderen Teil des Zuges etwas Merkwürdiges vorging. Er starrte einige Sekunden mit zusammengekniffenen Augen voran, bis ihm klar wurde, was er sah: Sie verschwanden, nach unten, in ein Loch im Boden.

„Es sind wirklich Termiten“, murmelte er.

„Termiten leben nicht unterirdisch“, brummte Marchant. „Sie bauen riesige Türme.“

„Es sind Eistermiten.“

„Es gibt keine Eistermiten.“

„Die anderen Termiten gibt es auch nicht mehr.“

Marchant antwortete nicht.

Stattdessen schaute er in Richtung des vor ihnen gähnenden Loches im Eis. Kentub folgte seinem Blick.

Es war groß, mindestens fünf Meter im Durchmesser. Während Jeanne weiter darauf zu stakste, korrigierte er seine Schätzung immer wieder nach Oben. Als sie schließlich den ersten ihrer sechs Füße auf die Schräge hinab setzte, war er bei fast zehn Metern angekommen.

Es war beinahe perfekt kreisförmig, die Wände (oder vielmehr Wand, denn eine Röhre hatte ja nur eine) bemerkenswert glatt.

Wie machen sie das? fragte er sich.

Die Kreaturen, die er gesehen hatte, verfügten zwar über beträchtliche Mandibeln, aber er konnte sich andererseits nur schwer vorstellen, dass sie diese gewaltigen Tunnel damit gegraben haben konnten.

Vielleicht, wenn sehr viele von ihnen gleichzeitig daran arbeiteten? Oder weniger, aber über sehr lange Zeit?

Beides war möglich. Oder vielleicht gab es auch spezialisierte Kasten, wie bei irdischen Insekten. Vielleicht hatten manche von ihnen einfach spezialisierte Eistunnelbohrmandibeln.

Der Tunnel, durch den sie sich bewegten, neigte sich sehr steil, und je tiefer sie in das Eis hinabstiegen, desto weniger Licht drang von der Oberfläche zu ihnen.

Am Anfang fürchtete Kentub noch, dass Jeanne eventuell ausrutschen könnte. Dann fragte er sich, ob das wirklich von Nachteil wäre.

Aber weder die Glätte des Untergrundes, noch seine Abschüssigkeit schienen ihr Probleme zu bereiten.

„Jeanne, falls du noch eine Chance suchen solltest, zu entkommen, wird es allmählich Zeit, oder?“

In den letzten Resten des Tageslichts konnte Kentub schemenhaft erkennen, wie der Weg sich vor ihnen gabelte.

Der Recht meinte er, in der Ferne ein mattes Schimmern ausmachen zu können. Führt der Weg wieder nach oben, oder war da etwas anderes, das Licht erzeugte?

Die Vorstellung, für unbestimmte Zeit mit den unheimlichen Kreaturen auf ein unbekanntes Ziel durch die Dunkelheit zu stapfen, erschien ihm sehr unangenehm, und kurz hoffte er, sie würden zumindest dem Licht wieder näher kommen, aber die Hoffnung verlosch so schnell wie das Schimmern am Ende des Ganges.

Ihr Pfad führte nach links, hinab in die Dunkelheit.

Lesegruppenfragen

  1. Wünscht ihr euch mehr Informationen über das Buchprojekt? Weniger? Andere?
  2. Habt ihr die „Die gab es zu kaufen“-Anspielung erkannt? Hat sie euch gefallen?
  3. Habt ihr eine Vorstellung, was im Dunkeln auf unsere tapferen Drei wartet?
  4. Wie steht ihr zu meiner Entscheidung, Eistermiten einzubauen?
  5. Hättet ihr eigentlich die Texte gerne auch als pdf?
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Ein Kommentar zu “Generationenschiff (15)

  1. Pingback: Generationenschiff (18) – Fabian Elfeld, Schriftsteller

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