Magnaflux (10)


Ich weiß, ihr könnt es kaum erwarten, zu erfahren, wie es in Gandersheim weitergeht.

Müsste ihr jetzt auch nicht mehr. Viel Spaß!

„Kann ich mich mit den Leuten hier überhaupt verständigen? In welcher Zeit sind wir noch mal? Hast du 940 gesagt? Die sprechen doch bestimmt gar kein Deutsch, wie ich es kenne?“
Kai grinste und zuckte die Schultern.
„Kein Problem. Das haben sie schon für dich angepasst. Du wirst es überhaupt nicht merken.“
Sie sah ihn an, mit leicht vorgeschobenen Lippen und zusammengezogenen Brauen.
„Können sie nicht auch gleich den Rest anpassen und u… mir die Arbeit sparen?“
Noch ein Schulterzucken.
„Sie sind nicht gut mit Gefühlen, und überhaupt verstehen sie uns nicht besonders gut.“
„Warum wollen sie denn dann überhaupt, dass ich jemanden heirate, der schon seit über tausend Jahren tot ist?“
„Sie wollen es so. Sie erklären es mir nicht. Sie haben …“
„… etwas mit dir gemacht, ja, ich weiß.“ Agata verdrehte die Augen und blies sich Haare aus dem Gesicht. „Wo ist denn mein Schatz Otto? Bringen wirs hinter uns.“
„Er ist noch auf dem Weg, aber morgen kommt er voraussichtlich an. Er ist auf dem Weg zum Papst und kehrt hier mit seiner Mannschaft ein. Das ist deine Chance, ihn zu umgarnen.“
Umgarnen.
Agata schluckte und schüttelte den Kopf.
„Ich bin nicht so gut im Umgarnen. Wissen deine Inhibitoren das nicht?“
„Sie sind nicht gut mit Gefühlen, und überhaupt-“
„… verstehen sie uns nicht besonders gut. Hast du irgendwo kleine Kärtchen mit deinen Dialogzeilen, oder wie funktioniert das?“
Er schaute ihr in die Augen.
„Sie haben etwas mit mir gemacht“, sagte er, sehr deutlich, langsam und betont. „Mach dich gern drüber lustig, wenn dir das was gibt, aber denk dran, dass dein Schicksal ein Kindergeburtstag ist gegen meins, okay?“
„Ihr bringt mich um, nachdem das hier erledigt ist, hab ich das richtig in Erinnerung?“
„EBEN!“ schrie er sie an, und obwohl sein Kopf fast einen halben Meter unter ihrem war, spürte sie kleine Speicheltröpfchen auf ihre Wange treffen. Sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück und wollte einerseits ihren Blick von der hassverzerrten Fratze abwenden, in die sein Kindergesicht sich plötzlich verwandelt hatte, wagte aber andererseits nicht, ihn aus den Augen zu lassen. Ihr wurde heiß, und sie spürte ihren eigenen Herzschlag.
„Du weißt gar nicht, wie gut du es hast, du dumme Pute!“ schrie er, „Du hast überhaupt keine Ahnung, DU VERSTEHST NICHTS DU DRECKIGES STÜCK MENSCH DU HAST KEINE“
Und plötzlich war er verschwunden.
Wunderbar.
Agata seufzte, schloss die Augen, und massierte sich mit beiden Händen die Schläfen.
„Kai?“ sagte sie nach einer Weile.
Nur die Stille antwortete ihr.
„Kai?“
Sie öffnete die Augen wieder und sah sich noch einmal in der kleinen Kammer um, in der sie angekommen war. Kein Kai.
Er war wirklich weg. Freiwillig? Oder war es was anderes? Hatten sie ihn zurückgerufen?
„Keine Ahnung“, murmelte sie, „Und keine Grundlage, um zu raten.“
Sie seufzte noch einmal. Zeit also, alleine herauszufinden, wie sie an ihren Otto herankommen und ihn becircen konnte.
Ohne die geringste Ahnung davon, wo sie war, in welcher Beziehung sie zu ihm stand, was er dachte und fühlte, ob es in dieser Zeit schicklich war, als Frau einen Heiratsantrag zu machen – wahrscheinlich nicht, war ihre Vermutung –, ohne die geringste Ahnung von irgendwas. Vielleicht hätte sie Geschichte studieren sollen.
Oder halt. Kai hatte gesagt, dass sie Roswitha von Gandersheim verkörperte. Damit bestand eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sie in Gandersheim war, vermutete sie.
„Na gut“; murmelte Agata, und machte sich auf den Weg zur Tür. Wohin auch immer sie führte. „Das ist doch ein Anfang.“
Sie öffnete die Tür, spähte die finstere kühle Wendeltreppe hinab und schob vorsichtig einen Fuß für den ersten Schritt die schmalen Stufen hinab. Es gab nicht mal einen Handlauf. Ob in diesem Turm wohl gelegentlich ein Tag verging, an dem sich niemand den Hals brach?
Naja. Sie hatte Grund zu der Annahme, dass sie in einem Turm war. Der vielleicht in Gandersheim stand, und ziemlich sicher in Deutschland.
Es war ein Anfang.

***************************************************

Für fast eine Minute herrschte Stille im Kontrollraum. Milosz starrte General Shaw mit weit offenen Augen und noch weiter offenem Mund an und wagte kaum zu atmen.
Ihr selbst ging es gar nicht so viel anders, während ihre Gedanken rasten.
Sie wollte Führungsstärke demonstrieren, und dafür war es sicher nicht dienlich, erstarrt da zu stehen und erschrocken die Wand anzustarren. Immerhin hatte sie ihre Mimik unter Kontrolle; eine Fähigkeit, die sie in zahlreichen Manövern und ähnlich angespannten Situationen perfektioniert hatte.
Aber sie wollte auch nicht wie eine Vollidiotin erscheinen, und dafür war es sicher nicht dienlich, mit dummen Fragen herauszuplatzen, bevor sie die Situation verstanden hatte.
Und sie hatte die Situation absolut gar nicht verstanden.
Trotzdem.
Irgendwann musste jemand etwas sagen. Irgendwann musste jemand bestimmen, in welche Richtung die Lage sich entwickeln würde.
Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht sie?
„Wie meinst du das, Kacper? Wer hat was aus dir gemacht?“
Es hatten sicher schon kommandierende Offiziere erhellendere Fragen zur Lage gestellt. Aber es war ein Anfang.
„Die fremde Macht hat eine Verbindung in unsere Zeit geöffnet und mich verändert“, antwortete Kacper, genau so ruhig und sachlich, wie er auch die Frage nach der aktuellen Temperatur oder dem Geburtsdatum von Agata Bednarek beantwortet hätte.
„Bitte begeben Sie sich in die Bilderkammer, um Kontakt zu Dr. Bednarek aufzunehmen“, fügte der Computer hinzu.
„Warum?“ fragte Shaw.
„Den Kontakt zu der Versuchsperson vermittels der Bilderkammer aufrecht zu erhalten, ist Ihre Aufgabe als Projektleiterin, General Shaw.“
Milosz saß noch immer stumm da und schaute mit weit offenen Augen zu.
„Ja“, erwiderte Shaw. „Aber bevor ich mich wieder meinen alltäglichen Aufgaben widme, möchte ich gerne noch einmal darüber reden, dass eine fremde Macht den Computer reprogrammiert hat, der hier alles steuert und von dem unser aller Leben abhängt.“
„Das verstehe ich sehr gut, aber eine weitere Erläuterung ist nicht erforderlich. Sie können unbesorgt sein. Bitte begeben Sie sich in die Bilderkammer, um Kontakt zu Dr. Bednarek aufzunehmen.“
„Es ist ungefähr eine Minute her, dass du mich gebeten hast, dir zu helfen, Kacper. Ich bin vieles, aber ganz sicher nicht unbesorgt. Milosz, können wir Kacper abschalten?“
Der Techniker blinzelte sie verwirrt an, bevor er antwortete:
„Ich… Äh. Ja.“ Er nickte, wahrscheinlich zu gleichen Teilen, um sich selbst aus der Starre zu wecken, und um Zustimmung auszudrücken. „Ja, natürlich. Das geht. Aber wir brauchen die KI, um Magnaflux zu erreichen. Das schaffen wir mit konventionellen Computern nicht, und ganz sicher nicht ohne Dr. Bednarek.“
Shaw nickte nachdenklich.
„Können wir die Zeitmaschine starten und Kacper dann abschalten, bevor ich die Bilderkammer betrete?“
Milosz schüttelte den Kopf. Auch das schien zu helfen. Er wirkte deutlich weniger blass und konnte sich ganz ohne Ähs artikulieren:
„Wir können den Temporaltunnel auch nicht aufrechterhalten ohne Unterstützung der KI.“
Shaw seutzte und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.
„Können wir ihn wenigstens vorher einmal aus- und wieder einschalten?“
„Meinen Sie das ernst?“
Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
„Nein, schon gut. Können Sie in irgendeiner Weise überwachen, ob Kacper etwas versucht, während ich in der Bilderkammer bin? Kann er überhaupt irgendetwas Gefährliches versuchen?“
Milosz faltete die Hände und stützte sein Kinn auf die Finger. Mit zusammengezogenen Brauen und geschürzten Lippen dachte er nach.
„Ich kann es versuchen“, sagte er schließlich. „Einerseits bin ich sicher, dass Kacper schneller wäre als ich, und schlauer, und zur Not auch in der Lage ist, die Anzeigen zu manipulieren, die ich sehe, aber andererseits sehe ich wirklich keine große Gefahr. Die Bilderkammer stellt ja nur eine Verbindung zu Dr. Bednareks Gehirn her und projiziert ein Bild von Ihnen für sie. Sicherlich könnte Kacper die Lüftung abdrehen und die Türen verriegeln, oder einen Kurzschluss auslösen, aber das kann er auch hier im Kontrollraum, wenn er uns schaden will. Und ich glaube, nichts davon würde Sie schneller töten, als ich die Kontrolle wieder übernehmen kann.“
„Wunderbar!“
General Shaw klatschte in die Hände und setzte ein Lächeln auf, darum bemüht, nicht zu viel Zähne zu zeigen.
„Dann kann ich ja wirklich völlig unbesorgt sein. Ans Werk!“

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