Generationenschiff (8)


Hättet ihr gedacht, dass das letzte Kapitel vor einem Vierteljahr erschienen ist? Ich auch nicht. Aber hattet ihr Zweifel, dass es irgendwann weitergehen würde? Ich auch nicht.

Viel Spaß mit dem nächsten Kapitel!

Was bisher geschah:

Im ersten Kapitel begleiteten wir Professor Rodney Advani zu einem Besuch bei Präsidentin Sima, um mit ihr über eine bedrohliche Entdeckung zu reden, lernten Kapitänin Tisha kennen, die ebenfalls gerade eine solche gemacht hat und dafür von Jeanne auf der Brücke eingeschlossen wurde, sahen Banja bei einer nicht sehr glücklichen Prüfung für seine Arbeit als Tinker zu, und wurden Zeuge, wie Jahre später  Jole und Kentub darüber beraten, wie sie mit den aktuellen Erkenntnissen über den Planeten umgehen, der das Ziel ihrer Mission sein sollte.

Im zweiten Kapitel hat Piedra zunächst einen Unfall bei einem Außeneinsatz und führt dann ein schwieriges Gespräch mit Psmith, und die Präsidentin entscheidet, die Idee einer KI zur Kontrolle der Mission weiter zu verfolgen.

Im dritten Kapitel debattiert der Besatzung der Humanity über die Vor- und Nachteile einer Landung auf Last Hope versus derer eines Weiterflugs zu einer anderen wirklich allerletzten Hoffnung, Piedra versucht vergeblich, mit Wu über ihren Verdacht gegen Smith zu reden und wendet sich deshalb an Tisha, die gerade gar keine Lust hat, mit so etwas behelligt zu werden, und im Übrigen ist Senator Bowman der Meinung, dass der Planemo vernichtet werden muss.

Im vierten Kapitel wimelt Tisha Piedra ab und sieht mit Jeanne zusammen ein Video von unfassbarer historischer Bedeutung, Nico und Banya fachsimpeln über die Erde und bekommen Besuch von Piedra, und in unserer Zeit versucht Jerry Martinez, die ihn ihre KI gesetzten Erwartungen zu dämpfen.

Im fünften Kapitel folgt Jeanne Kentubs Empfehlung, Tisha will dem Ruf der Natur eigentlich nicht folgen, und Piedra versucht vergeblich, Banya ihren Verdacht gegen Psmith zu erklären.

Im sechsten Kapitel gerät Piedra mit Psmith aneinander, Kentub und Jeanne mit Marchand, und Rodney mit Jerry Martinez.

Im siebten Kapitel verhört Jeanne erst Piedra und dann Tisha, Kentub und Jeanne gehen zu dem Fremden, und Jerry und Rodney diskutieren über die Rettung der Menschheit.

Was heute geschieht:

35.37.97

„Dies ist eine Nachricht für die gesamte Besatzung der Humanity. Sie werden sich in das Arboretum begeben, sobald es Ihnen ohne eine unverantwortliche Vernachlässigung Ihrer Pflichten für diese Mission möglich ist. Dort findet eine Teambesprechung statt, an der alle Mitglieder der Besatzung teilnehmen werden. Sollte es Ihnen nicht möglich sein, sich unverzüglich in das Arboretum zu begeben, werden Sie mich unverzüglich informieren.“

Piedra richtete sich auf dem Bett auf und schaute zunächst nur mit Überraschung, dann mit zunehmender Sorge, zu dem Lautsprecher darüber hinauf.

War das ihretwegen? Wenn Jeanne extra eine Teambesprechung einberief, so eilig außerdem, dann hatte sie gewiss eine sehr ernste Strafe vorgesehen.

Piedras Magen sank in ihre Kniekehlen, während sie darüber nachdachte. Sie hatte gehofft, dass Jeanne Milde walten lassen und berücksichtigen würde, dass sie unter besonderer Anspannung gestanden hatte, oder dass sie sogar ganz ohne Strafe davonkommen könnte, wenn herauskam, dass Psmith wirklich Medikamente verschwendet, selbst genommen, verkauft oder sonstwie missbraucht hatte. Nun sah es aber aus, als stünde ihr mindestens ein längerer Arrest bevor, wenn nicht sogar eine Zwangsversetzung oder eine andere Maßnahme, die ihr ganzes Leben verändern würde.

Widerwillig setzte sie einen Fuß nach dem anderen auf den Metallboden ihrer Kabine, stützte sich an ihrem Bett ab und stand auf.

Vor der Tür zum Korridor blieb sie stehen, auch wenn sie natürlich wusste, dass es nichts gab, was sie tun konnte, um sich vorzubereiten, und nichts, was sie tun konnte, um zu vermeiden, was nun kam.

Es gab keinen Ausweg. Eine simple Tatsache, die die Besatzung der Humanity als selbstverständliche Grundbedingung ihres Lebens kannte.

Piedra nahm einen tiefen Atemzug, schloss die Augen, nahm noch einen, und öffnete die Tür zu ihrer Kabine.

So entschlossen und so hoch erhobenen Hauptes sie konnte, stapfte sie in Richtung des Arboretums.

„Bitte achten Sie darauf, die Pflanzen und Beete nicht zu beschädigen. Im Laufe der letzten Teambesprechung wurden zwei Erdbeergewächse und eine Sojabohnenpflanze verletzt. Diese Pflanzen sind nicht nur als Nahrungsquelle, sondern auch als Kohlendioxidsenke unverzichtbar für Ihr Überleben und damit den Missionserfolg und mit der entsprechenden Sorgfalt zu behandeln.“

Kentub schaute reflexartig zu seinen und Banjas Füßen hinunter, obwohl er genau wusste, dass sie auf dem Weg zwischen den Beeten standen.

Jeanne hatte sich auf einem kleinen Podest aufgestellt, das eigens zu diesem Zweck an Bord als Bühne konstruiert worden war. Über die Einzelheiten von Teambesprechungen hatte man sich vor dem Start offenbar kaum Gedanken gemacht.

„Diverse aktuelle Ereignisse haben diese Teambesprechung erforderlich gemacht. Ich warne Sie bereits jetzt davor, dass diese Ereignisse Ihnen sehr beunruhigend erscheinen werden. Ich betone deshalb, dass die Situation sich unter Kontrolle befindet und keinerlei akute Gefahr besteht, soweit es für mich erkennbar ist.“

Kentub wandte sich Banja zu und grinste. „Wenn sie uns richtig verunsichern wollte, hat sie’s jetzt geschafft, oder?“

Banjas Augen flackerten kurz zu ihm hinüber und ein sehr unechtes Lächeln schimmerte um seine Mundwinkel.

Wann war das passiert? Oder war es schon immer so gewesen, und Kentub hatte es nur nicht gemerkt?

„Zunächst habe ich eine Veränderung in der Führungsstruktur mitzuteilen. Ihre bisherige Kapitänin Tisha hat sich entschieden, diese Position aufzugeben, da die Belastungen, die mit ihrer Verantwortung einhergehen, ihr nicht nachhaltig tragbar erscheinen. Für eine kurze Übergangszeit werde ich ihre Aufgaben selbst übernehmen, aber ich werde Ihnen sehr bald mitteilen, wer in Zukunft die Funktion des Kapitäns oder der Kapitänin der Humanity ausfüllen wird.“

Augen weiteten sich, während Jeanne sprach, Besatzungsmitglieder schnappten nach Luft und raunten einander aufgebrachte Fragen und Bemerkungen zu. Einige wandten sich auch direkt an Tisha, die am vorderen Rand der Gruppe stand und sich zu den anderen umgedreht hatte, als Jeanne ihren Namen nannte. Sie winkte nur stumm in die Runde und nickte mit einem melancholischen Lächeln.

„Kann sie das machen?“ fragte Banja.

Kentub öffnete seinen Mund und stand einen Moment wie ein Depp so da, während er nachdachte, was er antworten wollte.

„Ich fürchte, sie hat es gerade gemacht“, sagte er schließlich.

War das Enttäuschung im Blick seines Sohnes? Aber was hätte er denn sonst sagen sollen?

„Es gibt keine enumerative Auflistung ihrer Befugnisse“, fügte er hinzu, um es Banja noch etwas ausführlicher zu erläutern, „aber sie hat die Aufsicht über die gesamte Mission, und das Schiff, und ist verantwortlich für die Einhaltung der Missionsparameter. Wie ich es verstehe, kann sie eigentlich so ziemlich alle Maßnahmen einsetzen, die sie zu diesem Zweck für erforderlich hält.“

Banja nickte ihm zu, ohne ein weiteres Wort zu erwidern.

„Darüber hinaus habe ich heute eine Disziplinierung zu verkünden.“

Betretenes Schweigen folgte Jeannes Worten.

„Ein Besatzungsmitglied hat ein anderes Besatzungsmitglied vorsätzlich angegriffen und körperlich verletzt. Ein solches Verhalten ist nicht hinnehmbar. Insbesondere in einer Gemeinschaft mit so wenigen Mitgliedern auf einer so belastenden Mission mit so hoher Priorität sind wir alle verpflichtet, zu tun, was immer wir können, um den Zusammenhalt aller Beteiligten zu gewährleisten und Beeinträchtigungen sowohl unmittelbarer Art durch verletzungsbedingte Funktionseinschränkungen, wie auch mittelbarer Art durch Animositäten zwischen den Mitgliedern der Besatzung, Verunsicherung über die Zuverlässigkeit der geltenden Regeln der Kooperation und weitere vergleichbare Effekte zu minimieren.“

Die Gruppe begann wieder zu murmeln und sich mit individuell schwankenden Mischungen von Besorgtheit und Neugier umzusehen, wer von ihnen wohl das Vergehen begangen haben mochte.

Kentubs Blick war zunächst unwillkürlich zu Banja gezuckt, aber er musste nicht einmal das Gesicht seines Sohnes sehen, bevor sein Verstand seinen väterlichen Schutzinstinkten erklärt hatte, dass es absolut keinen Grund gab, anzunehmen, dass Banja in die Sache verwickelt war, und einige, die dagegen sprachen, nicht zuletzt die sehr grundsätzliche und erfreulich klare Ablehnung, die Banja stets gegen jede Form körperlicher Gewalt geäußert hatte.

Dass Banja selbst sich genauso verwirrt und erwartungsvoll umsah wie die anderen, war genug, um verbleibende Sorgen zu beseitigen.

„Piedra, bitte treten Sie vor und stellen Sie sich neben mich.“

Kentub sog Luft durch seine Zähne und verzog sein Gesicht, als der Name fiel. Es war nicht Banja selbst, immerhin, aber Piedra war die nächstbeste Kandidatin, und welche Konsequenz genau ihr Verstoß nun auch immer haben mochte, die ohnehin schon problematische Beziehung zwischen ihr und ihrem vorgesehenen Partner Banja würde dadurch gewiss nicht einfacher werden.

„Danke, Piedra. Bitte behalten Sie diese Position bei. Über die Konsequenzen Ihres Vergehens wird im Detail der neue Kapitän der Humanity entscheiden, den ich in Kürze ernennen werde. Zuvor jedoch habe ich noch von einem großen Ereignis zu berichten, nicht nur im Referenzrahmen dieser Mission, sondern der gesamten menschlichen Historie. Bitte betrachten Sie Ihre Displays.“

Banja zog sein tragbares Display hervor und – verstand nicht, was er sah. Ein verwaschenes, unscharfes Bild von … einer Qualle?

„Die Humanity hat Kontakt zu einer fremden Zivilisation aufgenommen.“

War die Aufregung unter der Besatzung nach der vorangegangenen Neuigkeit schon spektakulär gewesen für die Reise der Humanity, die oft jahrelang keinen Grund für mehr als eine gehobene Augenbraue lieferte, so war dies nun für die Verhältnisse des Schiffes ein wahrer Tumult.

Menschen redeten durcheinander, einige riefen laut über die Gespräche der anderen hinweg und fragten Jeanne, was sie damit meinte, ob sie einen Scherz machte, oder ob sie ihren künstlichen Verstand verloren hatte. Einige riefen ihre Fragen auch zu Tisha, und Banja befürchtete für einen Moment, die Stimmung könnte ins Bedrohliche umschlagen, doch Neugier überwand Sorge. Als Jeanne in ihrer Erklärung fortfuhr, verstummten die aufgebrachten Stimmen innerhalb weniger Sekunden.

„Die Fremden behaupten, von einem Stern zu stammen, der in unseren Karten nicht verzeichnet ist. Ihre Sprache basiert maßgeblich auf Lichtsignalen, weshalb ihr eigener Name für diesen Stern sich nicht sinnvoll in einer Lautfolge der unsrigen approximieren lässt. Aus diesem Grund, und nach meiner Einschätzung aufgrund anderer sehr grundlegender Unterschiede zwischen ihrer Spezies und der Ihrigen gestaltet sich auch die sonstige Kommunikation außerordentlich aufwendig. Zwar verfügen die Fremden offenbar über eine der unseren überlegene Computertechnologie, die Übersetzungen wiederum erheblich vereinfacht, aber meine Versuche, ihre Signale in Ihre Sprache zu übertragen sind dennoch mit großen Schwierigkeiten behaftet. Ich bitte Sie deshalb, dies bei der Interpretation dessen, was ich Ihnen wiedergeben werde, zu berücksichtigen und diese Vorbehalte nicht zu vergessen.

Die Fremden behaupten Forscher zu sein und die Galaxis zu erkunden, auf der Suche nach bisher unbekannten Phänomenen. Besonderes Interesse gilt dabei fremden Zivilisationen. Dennoch wird ihr Schiff nicht dem unseren begegnen. Ein Kurswechsel würde zu viele Ressourcen verschlingen. Sie bieten uns einen Austausch von Wissen in dem Zeitraum, innerhalb dessen die Schiffe sich in Kommunikationsreichweite befinden. Darüber hinaus bieten sie einen Austausch von Besatzungsmitgliedern. Das Schiff der Fremden verfügt angeblich über ein Shuttlesystem, das in einem Zeitfenster des Vorbeiflugs mit unserem Schiff docken könnte, um ein Mitglied ihrer Besatzung zu liefern und eines unserer Besatzung auf ihr Schiff zu transportieren.

Sie versprechen, dass unser Besatzungsmitglied an Bord ihres Schiffes mit den gleichen Rechten versehen sein wird wie die Angehörigen ihrer eigenen Spezies, und ein bequemeres und längeres Leben führen können wird, als es an Bord des unseren möglich gewesen wäre. Ihr Besatzungsmitglied wird voraussichtlich dauerhaft an Bord der Humanity verbleiben und mit uns das Wissen und die Technologie seiner Zivilisation teilen. Sie erhoffen sich das gleiche Entgegenkommen von unserem bei ihnen verbleibenden Besatzungsmitglied, machen dies aber nicht zur Voraussetzung des Austauschs.

Als Zeichen ihrer guten Absichten haben sie uns mit ihrer Botschaft einen erheblich Bestand von Daten übersendet, den ich noch nicht vollständig ausgewertet habe. Sie erhoffen sich das gleiche Entgegenkommen von uns im Gegenzug.“

03.68.149

Der Fremde … weckte in Kentub jedes Mal wieder die konsternierte Frage, wie irgendjemand auf die Idee gekommen war, ihn als maskulin einzuordnen. Soweit ihm bekannt war, gab es keinen Grund für die Annahme, dass seine Spezies auch nur eine zwei- oder mehrgeschlechtliche Unterteiung kannte, geschweige denn, dass er einer angehörte, die mehr oder weniger mit dem irdischen/menschlichen Konzept von „männlich“ korrespondierte.

Hinter der Glasplatte in dem kleinen mit flüssigem Methan gefüllten Raum – Kentub verzichtete wann immer möglich darauf, von „Aquarium“ zu sprechen – wogte ein Meer von Tentakeln              , nicht unähnlich den Aufnahmen von Seeanemonen in irdischen Meeren. Völlig unähnlich den sonderbaren Wesen in diesen Aufnahmen waren allerdings die blitzenden verschiedenfarbigen Lichter, die ständig über die Arme des Fremden wanderten, und natürlich seine Größe. Nicht dass Kentub sicher gewesen wäre, dass irdische Seeanemomen nicht größer werden konnten als erwachsene Menschen, aber auf den ihm bekannten Aufnahmen wirkten sie immer eher handtellergroß. Der Fremde war, so genau man das eben bei einem solchen Wesen messen konnte, über 3m hoch und an der breitesten Stelle, ungefähr in der Mitte von unten nach oben, um die 2m breit. Je nach Verhalten und Ausrichtung seiner Tentakel konnte er aber auch erheblich größer oder kleiner wirken. Seine Masse betrug, falls man sich auf Jeannes Aussagen hierzu verlassen konnte, rund 350kg.

Kentub war nicht glücklich darüber, auf wie viele Arten er sich auf Jeanne verlassen musste, aber selten wurde es ihm so deutlich wie in Gesprächen mit dem Fremden. Nur die Maschine war in der Lage, die Lichtblitze auf seinen Tentakeln in menschliche Worte zu übersetzen, oder zumindest war sie die einzige, die die Dreistigkeit beziehungsweise den Wagemut besaß, das vorzugeben.

Kentub hatte sie einmal gefragt, ob es nur die Blitze waren, oder auch die Bewegungen der Tentakel, oder die Gesamtkonfiguration, oder noch andere Faktoren. Sie hatte geantwortet, dass die Lichtblitze den Großteil des Inhaltes vermittelten, wie menschliche Sprache, und dass die anderen Faktoren eher mit Gestik und Mimik vergleichbar waren, also nur Subtext lieferten, dadurch aber nicht unwichtig waren. Auch hier hatte Kentub noch keine sinnvolle Möglichkeit gefunden, die Behauptungen der Maschine zu überprüfen.

Immerhin schien der Fremde keinerlei Anzeichen zu zeigen, mit Jeannes Übersetzung unzufrieden zu sein, und er hatte verschiedentlich gezeigt, dass er durchaus in der Lage war, seiner Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Falls diese Vorfälle echt gewesen waren, und nicht nur von Jeanne fabriziert, um die eigene Glaubwürdigkeit zu steigern.

Kentub schüttelte den Kopf.

Diese Art Zweifel führte nicht zu Erkenntnis, sondern zu Hirngespinsten wie denen, in denen sich diese Spinner verfangen hatten, die glaubten, die Humanity wäre gar kein Raumschiff und bewegte sich gar nicht durch das All. Es gab vernünftige Skepsis, und dann gab es bizarre Verschwörungstheorien.

„Es ist ein glücklicher Strom, der euch zu mir führt“, sagte Jeanne in der veränderten, maskulinen Stimme, die sie benutzte, um den Fremden zu dolmetschen. Gleichzeitig zog sie aus einer Halterung ein tragbares Display, das den Gruß des Fremden mit für ihn verständlichen Lichtsignalen erwiderte.

Wie Kentub das verstanden hatte, verfügte der Fremde über keine Organe, die genau dem menschlichen Auge entsprachen. Vielmehr war so ziemlich die gesamte Oberfläche seiner Tentakel in verschiedenen Graden lichtempfindlich. Dadurch verfügte er über eine sehr umfassende, aber auch sehr unfokussierte Wahrnehmung seiner Umgebung. Mutmaßlich. Grundsätzlich. Vielleicht.

Es war nicht so, als würde der Fremde eine gründliche Untersuchung seiner Physiologie zulassen oder Fragen dazu klar beantworten. Oder zu irgendwas anderem.

„Die Mission ist an einem Wendepunkt“, übersetzte Jeanne für den Fremden.

Kentub kam der Begriff nicht ganz treffend vor, aber er entschied sich dagegen, das jetzt zu thematisieren.

„Das ist sie tatsächlich“, antwortete er dem Fremden, und sah den verschiedenfarbigen Lichtblitzen auf Jeannes Display zu. „Und es scheint, als würdest du dir ein bestimmtes Ergebnis wünschen. Ich würde gerne direkt darüber reden, welches das ist, und ob ich es auch herbeiführen will.“

„Ich bin nicht für Ergebnisse hier“, übersetzte Jeanne.

Kentub seufzte, massierte sich den Nacken und antwortete:

„Und ich bin nicht hier, um mit Semantik zu spielen. Wir wüssten gerne, was dein Interesse in dieser Sache ist. Magst du es uns verraten?“

„Mein Interesse ist diese Sache“, sagte der Fremde durch Jeannes Lautsprecher.

„Natürlich ist sie das … Gut, ich versuche es noch mal anders: Jeanne und ich versuchen gerade, die Situation hier in einer Weise in den Griff zu kriegen, in der möglichst die gesamte Besatzung überlebt und diese Mission ihr Ziel erreicht. Du bist damit offenbar nicht einverstanden, denn du hast eingegriffen und Kontrolle über das Schiff übernommen, und wir haben keine Ahnung, warum. Bitte verrate uns doch, was du vorhast, und warum, und ob und wo vielleicht noch Verhandlungsspielraum besteht – übrigens Jeanne, falls du gute Ideen beizutragen hast, tu dir bitte keinen Zwang an, ja?“

„Ihre Sorge ist nicht gerechtfertigt“, erwiderte die KI, während das Display den Fremden anblinkte.

„Na dann“, murmelte Kentub. „Bloß gut, dass ich gefragt habe.“

Er wartete für einen Zeitraum, der sich lange anfühlte, auch wenn es in Wahrheit bestimmt kaum mehr als eine Minute war. Die Tentakel des Fremden blinkten und leuchteten, und zumindest antwortete Jeanne nicht, soweit er erkennen konnte, aber sie übersetzte auch nichts für ihn.

„Jeanne, bist du noch dabei, oder hast du dich aufgehängt?“

„Ich versuche, die Signale des Fremden in Ihre Sprache zu übersetzen.“

Kentub nahm durchaus wahr, dass Jeanne nicht ‚unsere‘ oder auch ‚meine‘ Sprache gesagt hatte, aber er versuchte, davon seine Gefühle ihr gegenüber nicht beeinflussen zu lassen. Es war ja sogar sachlich richtig, nahm er an. Wiederum andererseits musste er annehmen, dass sie diese Formulierung nicht zufällig oder aus Versehen gewählt hatte. Wollte sie ihm damit etwas Bestimmtes mitteilen? Versuchte sie, seine Gefühle ihr gegenüber gezielt in dieser Richtung zu beeinflussen?

Er schüttelte den Kopf und schaute wieder zurück zu der vor ihm hinter dem dicken Glas treibenden Gestalt.

Spekulationen über die Absichten von Künstlichen Intelligenzen waren nach seiner Erfahrung noch unnötig belastender als die über die ihrer natürlich entstandenen Gegenstücke.

So verschränkte Kentub die Arme vor der Brust und wartete darauf, dass Jeanne die Signale des Fremden fertig übersetzte.

Als die Maschine schließlich wieder in der Stimme des Fremden sprach, sagte sie

„Nein.“

Kentub seufzte und senkte seinen Kopf für einige Sekunden. Als er ihn wieder hob, schaute er resigniert von Jeanne zu dem Fremden.

„Warum bin ich nicht enttäuscht?“ murmelte er.

Jeanne verwendete wieder ihre normale, künstlich weibliche Stimme, als sie sagte: „Wir sollten umgehend in den Alpha-Sektor zurückkehren.“

„Du hast Recht“, stimmte Kentub zu. „Hier ist nichts mehr zu holen.“

„Das ist nicht der maßgebliche Grund“, widersprach sie. „Die Kampfhandlungen haben begonnen.“

98.37.97

Kentub versuchte, sich nicht zu sehr davon ablenken zu lassen, dass er nicht dahinter kam, was genau sich so merkwürdig anfühlte.

Es war nicht einfach die Position. Also, doch, natürlich war es auch die, aber das war offensichtlich.

Es war noch irgendwas anderes.

Der Sessel war eigentlich genauso wie alle anderen auch, nur eben am Ende des Tisches vor dem Hauptbildschirm.

Die Kleidung war es auch nicht. Die sah nur von außen ein bisschen anders aus, trug sich aber genau so wie seine alte. Die Schürze hatte er schon lange nicht mehr wahrgenommen, und sie fehlte ihm auch nicht.

„Das Essen“, murmelte er.

„Was?“ fragte Piedra, verwirrt blinzelnd, eine tiefe Falte zwischen ihren Brauen, ihr Mund halb geöffnet.

„Äh… Schon gut.“

Es war das Essen. Er dachte nicht darüber nach, was es zu essen geben würde. Er versuchte nicht, aus der begrenzten Palette von Zutaten und Gewürzen etwas Neues oder zumindest nicht immer genau Gleiches zu entwickeln.

Wer hätte gedacht, dass er damit so schnell aufhören würde?

Kentub entschied, das als gutes Zeichen zu nehmen, nickte sich ermutigend zu, räusperte sich und blickte zu Piedra auf.

„Also…“, begann er. „Ich vermute, du hast das schon oft genug erklärt, um es selbst nicht mehr hören zu können, aber ich fürchte, ich kanns dir nicht ersparen. Erzähl mir bitte noch mal möglichst genau, wie das mit Psmith war. Du hast zu wenig Schmerzmittel bekommen, nachdem du von dem Partikel verletzt wurdest, richtig?“

Überrascht sah er zu, wie sie die Kiefermuskeln anspannte, die Hände auf dem Konferenztisch zu Fäusten ballte, die Augen schloss, tief durchatmete und dabei einen Laut ausstieß, der irgendwo zwischen einem Schnauben, einem Grunzen und einem Knurren lag.

„Alles in Ordnung?“ fragte er, und hätte sich beinahe erkundigt, ob die Schmerzen so schlimm waren, hatte aber sein Gefühl sagte ihm, dass das keine gute Idee gewesen wäre.

Lesegruppenfragen

  1. Was ist euer Eindruck von Jeanne? Glaubt ihr, sie ist eher ein guter oder ein schädlicher Einfluss auf die Mission und die Menschen an Bord des Schiffes?
  2. Außerirdische sind natürlich immer schwer. Ich wollte den/die Fremden fremdartig machen, aber auch nicht auf prätentiöse Art. Wie würdet ihr meinen Versuch bewerten?
  3. Kommt ihr trotz der langen zeitlichen Abstände einigermaßen mit? Soll ich irgendwas erläutern? Ihr dürft mich gerne fragen, und ich verspreche euch hiermit ganz fest, dass es bis zum nächsten Kapitel nicht noch mal so lange dauern wird. Der Abstand wird ganz ganz sicher entweder kürzer oder länger.
  4. Würdet ihr euch freiwillig für den Austausch mit dem Schiff der Fremden melden? Warum oder warum nicht?

2 Kommentare zu “Generationenschiff (8)

  1. 0. Die Links zu Kapitel 6 und 7 sind nicht richtig.

    1. Schwierig zu sagen. Mein intuitiver Eindruck ist, dass sie versucht, richtig zu handeln, ihr Einfluss unabsichtlicherweise aber immer schädlicher wird.

    2. Ist gut gelungen. Scheint ziemlich originell zu sein. Ich zumindest könnte kein literarisches oder anderes Vorbild dafür nennen.

    3. Es geht. Die Zusammenfassung am Anfang ist hilfreich.

    4. Ich wäre sicherlich nicht der Erste, aber wenn sich nach langer Zeit niemand meldet, würde ich es wohl tun. Einerseits, weil dies zur Mission gehört, andererseits, weil die Aussichten des Menschenschiffes nicht gerade rosig sind.

  2. Pingback: Generationenschiff (11) – Fabian Elfeld, Schriftsteller

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