Ja, heute ist es noch später geworden. Nein, das soll kein Trend sein. Doch, das könnte morgen auch wieder passieren. Aber ich hab ja auch aus gutem Grund keine Uhrzeit versprochen. Leute, die sich sowas so planen und einteilen können, dass sie immer am Tag vorher schon fertig sind, sind Streber, und wer spielt schon gerne mit Strebern?
Wie immer gibt es das heutige Fragment nach Wahl als PDF oder hier auf der Seite.
Viel Spaß!
Mein Leben für dich
Als Lydia wieder zu sich kommt, ist es fast wie beim ersten Mal. Aber es dauert länger. Wieder ist ihre erste Sinneswahrnehmung Schall.
„Für mich sieht es tot aus“, sagt die Stimme eines Mädchens.
„Aber sie hat gesprochen. Sie hat ‚Vater’ gesagt. Ian hat es ja auch gehört, deshalb lebe ich doch überhaupt noch.“
„Sie hat zwei Einschusslöcher in ihrem Kopf, Dad. Sie ist tot.“
Das ist Davids Stimme. Das Mädchen ist dann wahrscheinlich Ronica. Und der Mann, der so verzweifelt glauben will, dass sie noch lebt, ist sicherlich Mark Dallows. Lydia weiß, dass sie die drei töten muss, und sie will es von ganzem Herzen, aber es ist zwecklos. Sie glaubt, dass sie den kleinen Finger an ihrer linken Hand bewegen kann, aber sie ist nicht sicher, ob der Finger sich wirklich bewegt oder ob ihre Nerven ihr das nur vorgaukeln.
„Die Kugeln sind wieder ausgetreten. Durch die Einschusslöcher. Sie ist nicht tot!“
Mark Dallows spricht hastig und atemlos. Lydia ist verwirrt. Warum will er, dass sie lebt? Sie glaubt, dass ihre Augen ihr ein verschwommenes Bild übermitteln. Sie kann Licht sehen. Falls das nicht auch eine Täuschung ist.
„Es hat drei Kopfschüsse, verdammt, natürlich ist es tot!“ ruft das Mädchen.
„Es war vielleicht wirklich keine gute Idee, einfach mit ihr abzuhauen, Dad“, sagt David, „Damit machst du dich verdächtig.“
Lydia spürt, wie jemand seitlich in ihren Bauch tritt, zwei Mal. Es sind kräftige Tritte, aber Lydia empfindet Schmerzen anders als echte Menschen es tun, sogar dann, wenn nicht ein großer Teil ihrer Neuronen zu Mus zerfetzt ist.
„Ronica, was soll das?“ fragt Mark.
„Das war für Philipp Tykes.“
Wer ist Philipp Tykes? Lydia kennt den Namen, aber sie kann sich nicht erinnern.
„Es hat ihm sicherlich sehr geholfen.“
„OK, wie du willst: Es war für mich. Und es war ein echt geiles Gefühl, in Ordnung?“
„Es macht mir ein bisschen – da, habt ihr das gesehen? Ich glaube, sie hat sich bewegt.“
„Dad, das wird jetzt allmählich peinlich.“
„Könntet ihr beide aufhören, mich wie einen Wahnsinnigen zu behandeln? Ich habe darin genug Übung, ich merke es, wenn jemand das mit mir macht. Lydia ist noch am Leben, sie hat einen Puls, und ich musste sie mitnehmen, weil es sonst jemand anders getan hätte. Polizei, Geheimdienst, Men in Black, wer auch immer dafür zuständig wäre. Und wenn mich jemand fragt, warum ich weggelaufen bin, bevor die Polizei angekommen war, habe ich ein paar ziemlich gute Antworten bereit, zum Beispiel, dass ich mir Sorgen um euch gemacht habe.“
Während Mark spricht, wird seine Stimme vernünftiger. Er beruhigt sich selbst mit der Versicherung, dass er nicht verrückt ist. Lydia ist sich jetzt sicher, dass sich ihr Finger bewegt. Und sie kann im Licht die Umrisse von zwei Menschen sehen. Ein größerer und ein kleinerer.
Sie versucht, sich zu erinnern, wie sie in diese Situation gekommen ist, aber es gelingt ihr nicht. Sie weiß noch, dass sie George Custer getötet hat, nachdem er sie angezündet hatte. Sie erinnert sich, dass sie danach irgendwie herausgefunden hat, wo die Dallows-Familie war. Oder hat sie das schon vorher gewusst?
„Aber sie hat zwei Kopf“
„David!“ sagt das Mädchen, in sehr ruhigem Tonfall.
„Was?“
„Sie atmet.“
Lydia bemerkt, dass das Mädchen diesmal ‚sie’ gesagt hat, nicht ‚es’ wie bisher.
„Du hast Recht.“
„Dad, du hast doch alles voll im Griff, dann weißt du doch sicher auch, was wir jetzt machen, damit sie uns nicht doch noch kriegt?“
„Selbstverständlich. Aber ich wollte noch ein bisschen warten. Ich weiß nicht, was passiert, wenn ich jetzt sage, dass sie niederknien soll. Sie kann es ja nicht.“
„Das ist echt rührend, wie du dich um dieses Ding da sorgst, aber woher weißt du, dass sie nicht bloß auf den richtigen Moment wartet?“
Mark seufzt.
„Ich glaube, ich fand es doch besser, als ihr noch dachtet, sie wäre tot. Knie nieder, Lydia, und empfange das Sakrament!“
Jetzt empfindet sie Schmerzen. Keine körperlichen. Schlimmer. Sie hat die Worte gehört, und ihre Konditionierung will sie zwingen, zu gehorchen, aber sie kann nicht. Ihr Gehirn ist beschädigt, und sie kann ihre Bewegungen nicht koordinieren. Möglicherweise zucken ihre Arme und Beine ein wenig, aber sie kommt nicht einmal nahe dran, niederzuknien. Und es tut so schrecklich weh.
„Uäh, das ist eklig!“ hört sie Ronica durch den Nebel des Schmerzes rufen, „Wie eine zertretene Spinne oder so!“
„Das heißt wohl, dass sie derzeit noch ungefährlich ist“, sagt David.
Es tut so schrecklich weh. Aber Lydia kann es ertragen. Und sie kann spüren, wie sie heilt. Wie sie die Herrschaft über ihren Körper, ihre Muskeln und ihre Sinne zurückgewinnt. Sie fragt sich, ob ihr Vater sehr verärgert sein wird, dass es ihr noch immer nicht gelungen ist, die Familie zu töten. Sie hofft, dass es noch nicht zu spät ist. Mein Leben für dich, denkt sie. Sie meint es.
Konnte das „es“ erst gar nicht so einordnen, dachte es wäre ein Schreibfehler und müßte eigentlich „sie“ heißen. Aber im Laufe des Weiterlesens klärte sich das ja dann auf. 🙂
Eine Frage noch: Sind das jetzt eigentlich schon fertige Geschichten (zumindest in deinem Kopf), aus denen du was rausreißt und hier einstellst? Oder wie soll man sich das sonst vorstellen?
@Christina: Teils, teils. Das erste Türchen war aus einer unfertigen Geschichte. Das zweite Türchen ist aus einer weitgehend fertigen. Das dritte Türchen wiederum aus einer extrem unfertigen. Und einige der anderen werden auch komplett frei neu für euch geschrieben.
Oh. Das fand ich ein ausgesprochen starkes Fragment. Und ich freu mich enorm zu hören, daß es da potentiell noch Geschichte dazu gibt. Mich interessieren alle Personen, und die Konstruktion und die Vorgschichte… alles. Gänsehaut.
@ Muriel:
Na…..dann hast du ja in nächster Zeit noch allerhand zu tun…..
@madove: Ich hoffe, ich enttäusche dich nicht, wenn ich dir sage, dass du die Geschichte sogar schon hast.
Was ein schöner Name!
[Den Fragmentnamen meine ich.]
@Triffels: Dann muss ich natürlich gestehen, dass ich ihn aus Stephen Kings The Stand entliehen habe. Da wurde diese Redewendung zwar sicher nicht zum ersten Mal benutzt, aber ich hab sie eben von da, und das sollte ich offen legen, fand ich gerade. Du weißt schon. Nicht von mir. Trotzdem danke!
@muriel:
Nun, der Schreibstil des Textes selbst gefällt mir auch gut.
Möchte ich auch lesen.
@Triffels und Guinan: Besten Dank. Diese Geschichte liegt mir auch sehr am Herzen. War damals die erste halbwegs gute, die ich geschrieben habe, und so rein von der Idee her vielleicht sogar meine liebste.