Habt ihr die Lesung alle schon angesehen? Wirklich alle? Okay. Dann dürft ihr jetzt auch das neue Kapitel von oben lesen.

Viel Spaß!
‚Hey bin da, kannst du bitte kurz kommen und mir durch den Sand helfen?‘
‚Ja, bin sofort da!‘
Es gab echt nicht viele Ferienorte, deren Strände barrierefrei waren. Gute zu finden, wurde noch zusätzlich dadurch erschwert, dass es jede Menge Ferienorte gab, die behaupteten, ihre Strände wären barrierefrei, weil sie irgendwo einen verwitterten Holzsteg hatten, an dem jede zweite Latte fehlte und der immerhin fünf Meter in den Sand hineinragte, sodass 1 an guten Tagen fast das Meer sehen konnte.
Und so musste Marni kurz warten, damit Ebru ihr helfen konnte. Zum Glück machte Warten ihr nicht viel aus. Sie hatte ja ihr Handy dabei, und einen Sitzplatz außerdem. Sie konnte sich nicht so richtig auf Twitter konzentrieren, war aber andererseits ganz froh über die Ablenkung. Und immerhin waren da keine neuen Drohnachrichten.
WhatsApp machte sie lieber nicht auf. Dafür blieb später noch genug Zeit.
Und immerhin dauerte es auch nicht lange, bis Ebru auftauchte, mit gut gelauntem Lächeln und dem Reiseführer unterm Arm. Marni freute sich über Ebrus gute Stimmung, denn sie fühlte sich leicht schuldig, wenn Ebru ihr über den Strand half. Es war echt schwer, den Rollstuhl durch den Sand zu schieben, sogar, wenn er wie hier nicht so tief und ein bisschen feucht und deshalb fester war. Ebru beklagte sich natürlich nie, aber … Es war halt schon ein komisches Gefühl.
„Hey du! Na, wars gut mit der Drohne? Bist du wieder um diese olle Scheune rumgeflogen.“
„Mhhjaa…“
Marni hatte sich immer noch nicht entschieden, was sie Ebru erzählen wollte, und wie, und sie wollte ihre Freundin zwar nicht anlügen, aber sie wollte die Entscheidung jetzt auch nicht unter Druck ganz schnell treffen müssen.
„Und war gut?“
„Joa, ist einfach cooles Ding. Bestes Geschenk!“
Ebru strahlte.
„Schön! Hier am Strand wars auch nett. Und der Reiseführer ist natürlich schrecklich, aber ich hab viel gelernt. Die haben hier ihr eigenes kleines Rattenfänger-Spinoff aufgemacht, die Frechdachse, wusstest du das?“
„Hä wie? Nee.“
Ebru lachte, stellte sich hinter Marni auf, kippte sie ein Stück nach hinten, damit die Lenkräder sich nicht so in den Sand gruben und begann, den Rollstuhl über den Strand zu schieben.
„Geht erstaunlich gut, jetzt erst mal“, sagte sie.
„Beschrei es nicht“, antwortete Marni.
Ebru lachte.
„Also das mit dem Rattenfänger?“, erinnerte Marni.
„Ja. Also das mit dem Rattenfänger. Warst du eigentlich schon mal in Hameln? Echt niedliche kleine Stadt, und der Weihnachtsmarkt –“
„Erzähls endlich!“
„Nu lass mich doch ein bisschen Spannung aufbauen!“
„Spannung aufbauen ist das, was du machst, während du eine Geschichte erzählst, nicht, indem du sie nicht erzählst.“
„Ach. Na gut. Wenn das so ist. Also pass auf. Dorsum ist anscheinend echt alt. Die erste urkundliche Erwähnung war 1259. Und die Kirche ist aus dem 16. Jahrhundert.“
„Siehst du“, unterbrach Marni die Erzählung, „Jetzt hast du zwar möglicherweise irgendwie angefangen, was zu erzählen, das geb ich zu, aber Spannung aufbauen ist immer noch was anderes.“
„Die Nordseeluft macht dich gemein, hm?“
„Nur ungeduldig. Erzähl weiter.“
„Du hast mich unterbrochen. Das kann ich nicht einfach so straflos durchgehen lassen.“
„Doch.“
„Ich kann so viel von dir lernen. Wo war ich? Kirche aus dem 16. Jahrhundert, genau. Und irgendwie so aus der Zeit stammt wohl auch die Geschichte, angeblich zumindest. Ich vermute ja, dass die sich irgendein Tourismusheini überlegt hat, um eine Aufhängung für Stadtführungen zu haben. Und zwar gab es wohl eine Sturmflut, kurz nachdem die Kirche gebaut wurde, und die hatten damals keine vernünftigen Deiche oder so, und deshalb haben der Bürgermeister und der Pfarrer – heißen die so, ich kanns mir immer nicht merken?“
„Glaub schon. Die … Nee. Die Pfarrer sind die katholischen, oder …? Oder gehen die beide? Ich weiß auch gar nicht so richtig. Aber das hier ist doch jedenfalls garantiert eine evangelische Kirche?“
„Genau. Und ist ja auch egal. Also der Bürgermeister und der Pfarrer wollten nicht, dass ihre schöne neue Kirche überschwemmt oder ganz zerstört wird, vielleicht gings ihnen auch um ein bis zwei andere Häuser, wer weiß das schon, und deshalb haben sie eine örtliche Hexe angesprochen, ob die ihnen helfen kann. Die Hexe hat dann gesagt, klar, gerne, aber ob ihr vielleicht im Gegenzug bereit wärt, mich nicht mehr zu jagen und nicht aufzuhängen, wenns irgendwie geht?
Das fiel den beiden Führungskräften natürlich sehr schwer, aber sie haben sich am Ende drauf eingelassen, und die Hexe hat dann wohl auf nicht ganz klare Art irgendwie geholfen und die Sturmflut ging an Dorsum vorbei und der schöne neue Kirchturm blieb st… Oah, das ist jetzt ein bisschen schwierig hier.“
Das rechte Hinterrad von Marnis Rollstuhl war steckengeblieben und recht tief eingesunken. Sowas passierte öfter, als 1 denken sollte. Auch wenn der Strand eben und gleichmäßig aussehen mochte, verborgen sich immer Lächer unter dem Sand.
Sie hoffte nur, dass sie nicht irgendein Tier dabei eingeklemmt oder anderweitig erwischt hatten.
Ebru murmelte, stöhnte und fluchte kurz ein bisschen, und Marni verlagerte ihr Gewicht und ruckte ein bisschen hin und her, dann hatten sie das Rad befreut, und ein paar Schritte weiter hatten sie endlich das Meer erreicht.
Ebru setzte sich neben Marni in den Sand, sodass ihre Zehen regelmäßig vom Wasser überspült wurden, die Wellen aber nur manchmal bis zu ihrer Hose reichten.
Ganz vermeiden ließ sich das nie, aber sie waren ja auch im Urlaub, und es war warm genug.
Marni überlegte, die Schuhe auszuziehen und auch die Füße ins Wasser zu halten. Erst mal begnügte sie sich aber damit, einfach nur die Aussicht zu genießen.
„Also der Kirchturm blieb stehen und die Sturmflut verschonte den Ort und seinen Deich, und für ein paar Jahre war es wohl ganz in Ordnung, aber dann hat der Bischof die Sache mitgekriegt und die Inquisition kam und nahm die Hexe fest und ganz Dorsum hat tapfer Widerstand geleistet – du merkst, die Geschichte ist garantiert komplett wahr – aber am Ende hats nicht gereicht und die Hexe wurde hingerichtet. Ein bisschen später begann es dann, dass Kinder und Leute verschwanden, einen Monat lang, und dann war erst mal Ruhe, aber seitdem soll angeblich alle 107 Jahre und 1 Tag die Hexe wieder kommen und sich zur Strafe irgendwen aus dem Dorf holen.“
„Also kein Rattenfänger, sondern Hexe?“
„Genau.“
„Wie lange ist denn das letzte Mal her?“
Ebru lachte.
„Du stellst immer genau die richtigen Fragen. Aber keine Sorge. Wenn ich richtig mitgerechnet habe, war das letzte Mal irgendwann ums Kriegsende rum, wir haben also noch ne Menge Zeit bis zu den nächsten Entführungen. Die sind dann irgendwann 2050 oder 60 wieder dran, wenn die Zahl überhaupt irgendeinen Sinn hat.“
„Bin sehr beruhigt“, sagte Marni schmunzelnd, ohne den Blick vom Horizont abzuwenden. Was war das da hinten? Ein Schiff, eine Bohrinsel? Oder viel näher dran und eine Möwe, oder irgendein Boot? „Und … Stand da irgendwas Genaueres über die Hexe?“
„Nee, du weißt ja, wie solche Geschichte immer sind. Warum? Glaubst du, du hast sie gesehen?“
Marni lachte, und erschrak ein bisschen davor, wie falsch und aufgesetzt das klang. Ebru schien es aber nicht zu hören, oder entschied sich, es zu ignorieren. Vielleicht übertönte das Rauschen der Brandung genug von den Feinheiten der Untertöne.
***************
„Sag mal, Romy, spinnst du?“
„Was?“
Sie hatte sich in ihr Auto gesetzt, sowohl, um die davon schlurfende Bianca Hinrichs ein bisschen beobachten zu können, als auch, um ohne unerwünschte Zuhörer*innen telefonieren zu können.
„Hier haben gerade Dr. Weichsel, Rolf Högenich und Karl Bensen angerufen. Sie sind alle sehr begeistert von dir und wollen dich mal persönlich kennenlernen. Wenn du verstehst, was ich meine.“
„Matts, was hätte ich denn machen sol-“
„Deinen Scheiß-Job, wofür du da bist, wofür du bezahlt wirst, hast du darüber mal nachgedacht?“
„Mein Scheiß-Job ist aber nicht, erwachsene Leute zu fixieren, nur weil irgendwelchen anderen Leuten nicht passt, dass die nicht in ihrem Zimmer bleiben wollen!“
„Die Hinrichs ist eine Heimbewohnerin, mein Gott, und deine ‚irgendwelche anderen Leute‘ sind eine Ärztin, vier Pflegekräfte und der Heimleiter!“
Natürlich hatte Romy sich ein bisschen überlegt, was sie sagen wollte. Sie war ziemlich desorganisiert und überfordert von ihrem Leben und auch nicht besonders fleißig, aber sie dachte noch genug mit, um zu wissen, dass dieses Gespräch kommen würde.
„Steht Bianca Hinrichs unter Betreuung? Gibts irgendeinen Gerichtsbeschluss? Irgendwas anderes, was ihr Recht einschränkt, nach draußen zu gehen, wenn sie nach draußen will, und Beruhigungsmittel abzulehnen?“
Sie hatte sogar ein bisschen gegooglet, damit sie keinen völligen Quatsch erzählte in ihrer Rechtfertigung.
„DA stellst du dich jetzt auf die Hinterbeine wegen irgendwelcher Formalien! Weiß du, wie begeistert die alle sind, jetzt am Samstag einen Richter nerven zu müssen, damit du dich gnädig dazu herablässt, ihre Patientin zu schützen?? Echt jetzt Romy, glaubst du nicht, dass die besser beurteilen können, welche Medikamente die senile Oma braucht, und ob es gut für sie ist, wenn sie jetzt orientierungslos draußen rumstolpert?“
„Sie hat sich das Messer an die Kehle gehalten, Matts!“ Romy mochte es generell, wenn Leute die Wahrheit sagten. Aber sie war da auch nicht fanatisch. „Wärs dir lieber gewesen, wenn du in der Zeitung gelesen hättest ‚Örtliche Polizei tötet älteste Bewohnerin Dorsums, weil sie nicht im Bett bleiben wollte‘?“
„An die Kehle?“, fragte Matts. „Davon haben die nichts gesagt.“
„Ja, die waren ja auch nicht mit im Zimmer, sondern schön entspannt in Sicherheit im Flur. Und ich fand übrigens, dass Frau Hinrichs sehr zurechnungsfähig wirkte. Natürlich aufgebracht, wär ich auch gewesen, aber komplett bei sich, ansprechbar, orientiert.“
„Und das kannst du besser beurteilen als eine Ärztin und fünf Altenpfleger?“
„Es werden immer mehr, gerade warens noch vier.“
„Scheißegal, wie viele das waren! Du sammelst jetzt die Oma ein, gibst die in dem Heim ab, und dann kommst du her und wir planen deine Entschuldigung.“
„Fick dich, Matts, hast du nicht zugehört? Kein gerichtlicher Beschluss, keine Betreuung, die Frau kann machen, was sie will, solange sie ihren Rollator nicht ins Halteverbot stellt.“
Sie hatte gar keinen Rollator. Egal.
„Hast du mir gerade gesagt …?“
„Ja, hab ich. Und wenn Roger mich deshalb gleich noch anrufen will, soll er das machen, aber sag ihm auch gleich, dass ich keine rechtswidrigen Anweisungen ausführe, nicht mal von ihm.“
„Da erinnere ich mich aber an andere Situationen, Romy.“
„Sag ihm auch schöne Grüße, ja?“
Sie legte auf.
Atmete, bewusst in den Bauch, das entspannte ein bisschen.
Und fragte sich, ob sie gerade ihren Job gefährdete.
Ob sie als Kompromiss vielleicht wenigstens ein Auge auf die alte Dame haben sollte, damit sie nicht Schuld war, falls die sich jetzt tatsächlich was tat, ob absichtlich oder versehentlich. Es schien eigentlich eine sehr offensichtlich richtige Entscheidung, denn sogar jemand mit so wenig langfristigem Verantwortungsgefühl wie Romy konnte erkennen, dass es von hier aus noch eine sehr diskutable Sache war, aus der sie sich garantiert irgendwie rauswinden konnte, auch wenn sie wahrscheinlich ihre Chancen, eines Tages Dienststellenleiterin der Polizei Dorsum zu werden, drastisch reduziert haben dürfte. Immerhin war sie verbeamtet, und eine Strafversetzung von hier kaum noch denkbar. Klar, irgendwo nach Brandenburg, das wär schon ärgerlich, aber nicht mal das Meer würde ihr besonders fehlen, insofern …
Aber wenn Frau Hinrichs jetzt irgendwo über eine Wurzel stolperte und dann am Wegesrand über Nacht erfror oder so …
Dann würde niemand mehr was von Betreuung und Beschlüssen hören wollen, sondern alle wären sich einig, dass Romy Schuld am Tod der alten Frau war. Vielleicht würde sogar die Staatsanwaltschaft ins Spiel kommen. Unterlassene Hilfeleistung oder sowas? Das würde sie noch mal genauer googlen müssen, ob das hier passte, aber sie wusste, dass denen irgendwas einfallen würde, allein schon, damit sie der Presse sagen konnten: ‚Natürlich ermitteln wir gegen die verantwortliche Beamte, wir bitten um Verständnis, dass wir uns zu den Details des laufenden Verfahrens nicht äußern können, versichern Ihnen aber, dass wir natürlich mit der vollen Härte …‘
Aber da gab es noch ein Problem: Lina.
Sie hatte ihr versprochen, sie zu diesem Treffen zu fahren. Aber vielleicht konnte sie ihr ja ein Taxi anbieten?
Romy selbst hätte sie auch ein paar Straßen weiter absetzen müssen, weil sie zwar ihr privates, ziviles Auto fuhr, aber ihre Uniform anhatte, und Lina fürchtete wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht um ihre Glaubwürdigkeit in der Antifa-Gruppe, wenn die anderen das sahen.
Romy fragte sich manchmal, ob die anderen wirklich nicht wussten, dass sie Polizistin war, oder ob es mehr so ein … unsichtbarer Elefant im Raum war, über den aber niemand sprach? Oder ob sie sogar drüber sprachen? Was Lina wohl so über sie erzählte …
Vielleicht würde sie irgendwann mal fragen, wenn die Stimmung echt gut war. Vielleicht während der Nachtzugreise…
Oder eben gerade nicht?
Vielleicht lieber warten, bis die Stimmung eh gerade schlecht war?
Mal gucken.
Romy seufzte, griff nach der Autotür, schaute vorsichtshalber noch mal über die Schulter, um keinen Radfahrer zu treffen, aber da war keiner, öffnete die Tür und stemmte sich aus ihrem Auto.
Was nun?
Wenn sie da jetzt rein ging, zu Lina und ihrer Mutter, würde sie mindestens 20 Minuten nicht rauskommen, sogar wenn sie echt ihr Bestes tat, und dann war Frau Hinrichs weg, und sie würde wahrscheinlich so bald nicht wieder Geld haben, um ihrer Tochter ein Taxi zu bezahlen, weil sie alles für Gerichtskosten und Anwält*innen brauchen würde.
Sie nahm ihr Handy aus der Tasche und begann zu tippen.
‚Hi Lina, tut mir total leid, die Lage hat sich ein bisschen überraschend entwickelt, ich muss jemanden verfolgen, und leider gehts nicht anders, aber du müsstest dann ein Taxi nehmen, wenn du von Oma rauskommst. Ich geb die das Geld natürlich wieder, okay?“
War doch in Ordnung, oder? War doch eine nette Nachricht. Und ihre Entscheidung war eigentlich sehr vernünftig und sinnvoll und weitsichtig und hatte garantiert nichts mit den 1001 Gründen zu tun, aus denen sie jetzt nicht gleich wieder in das Pflegeheim laufen wollte.
Langsam trottete Romy der alten Frau hinterher und warf dabei nur ganz wenige verstohlene Blicke über die Schulter in Richtung des Johanniterhauses, das sie immer weiter hinter sich ließ.