Heute stellen wir eine neue Protagonistin vor, und ich hoffe, sie schreckt euch nicht ab, denn sie hat einen etwas … ekligen Beruf. Aber keine Angst, das hier wird trotzdem nicht der Tatort.

Viel Spaß mit dem neuen Kapitel!
Marni klickt durch die Drohnenbilder und -videos und warf nur ab und zu einen halb schuldgefühliegen, halb vorwurfsvollen Blick auf die verflixten Klausuren, und ein bisschen öfter einen sehr eindeutig nur schuldgefühligen Blick in Richtung Küche, aus der sie Ebrus Kochgeräusche hörte.
„Ich kann dir aber aber auch wirklich gerne helfen, oder ich machs mal, während du was Nettes liest oder so?“, rief sie.
Ebru lachte.
„Ist echt kein Problem“, rief sie zurück. „Ich mach das total gerne, und du hast andere Sachen zu tun, die am Ende auch mir Freude machen. Ist doch alles fein so!“
„Aber nur, solange es für dich wirklich in Ordnung ist! Und sowieso und unabhängig davon mach ich morgen das Essen. Ich halt das sonst nicht aus.“
„Darf ich helfen?“
„Naja“, antwortete Marni. „Das war eigentlich nicht Sinn der Sache, aber wenn du drauf bestehst.“
„Ich bestehe drauf! Ich schneid so gern Gemüse klein, das gibt so ein geiles Gefühl von Selbstwirksamkeit.“
„Wenn mans kann … Für mich gibts mehr so ein Gefühl von Selbstverletzungsrisiko …“
Ebru lachte aus der Küche, und Marnis Lächeln verdorrte, als sie die WhatsApp-Benachrichtigung auf ihrem Handy sah. Jetzt gingen die Ärsche nicht mal mehr den Umweg über ihren Twitter-Account, sondern hatten … irgendwie die Mobitelefonnummer rausbekommen? Anders kam man doch nicht an den WhatsApp-Account, oder?
‚Wir haben dich und deine Schl*** auf dem Feldweg gesehen. Hats Spaß gemacht? War weit weg vom Ort, oder? Meinst du, da hätte euch wer schreien gehört?‘
‚Fuck fuck fuck‘, dachte Marni.
Vielleicht würde sie doch zur Polizei gehen.
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„Mmmhhmmrmmrmmmmm…“
„Mama!“
„Ppfrshchmmmrhshchch!“
„Maaaamaaaaa!“
„Hrrrgssghhhhhffffff!“
„Maaaaaaaaaaaaaammaaaaaaaaaa!“
„JA großer Gott was denn??“
Romy zog das Kissen unter dem Kopf hervor und presste es sich mit beiden Händen ins Gesicht.
„Ich bin zu Hause!“, hörte sie ihre Tochter trotzdem rufen. Nee, nicht mehr Tochter. Kind. Romy fand, ‚Kind‘ klang irgendwie so unpersönlich, als wäre sie eine Romanfigur, die von einem sehr lieblosen allwissenden Erzähler beschrieben wurde, oder so. Aber ‚Tochter‘ ging halt nicht ehr. Ja gut. Man konnte Probleme auch schlimmer machen, als sie waren. Lina. Lina war doch gut.
„Ja toll und?? Ich bin wach, mir hilft auch niemand!“
„Du hast nix eingekauft!“
„Scheiße“, murmelte Romy. „Wollte ich?“
„Ja!“
„Scheiße.“
„Was ist denn noch da?“
Es war nicht, dass Romy sich vorgenommen hatte, eine schlechte Mutter zu sein. Aber es war irgendwie passiert und sie hatte sich irgendwie in der Rolle eingerichtet, und wenn es nötig war, tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass sie immer noch besser war als der Vater.
Romy hatte oft die Erfahrung gemacht, dass man sich seine Ziele nur niedrig genug setzen musste, und die Erfolgserlebnisse kamen von selbst nur so auf einen eingeprasselt.
Während sie sich aus dem Bett quälte, hörte sie Lina Schränke in der Küche öffnen und schließen.
Romy tapste blinzelnd und müde stöhnend um ihr Bett herum und suchte etwas, was sie überziehen konnte. Da lag Unterwäsche, aber die lag da schon lange. Der Bademantel da sollte in die Waschmaschine, den würde sie jetzt nicht wieder anziehen. Die Hose … Nee, das war ihr jetzt zu mühsam. Der BH war zu wenig.
Da, der Bademantel mit den grauenvollen rosa Blüten drauf, den ihr mal ein … Freund geschenkt hatte.
Sie hasste ihn, aber er war sauber und reichte immerhin fast bis zu den Knien. Sie warf ihn über und tapste in die Küche.
„Spaghetti“, sagte Lina, während Romy den Wasserhahn in der Küche aufdrehte und sich kühles Wasser ins Gesicht schaufelte, sorgsam darauf bedacht, dabei nicht in das schmutzige Geschirr zu langen, das sich darin stapelte.
„Du könntest ruhig auch mal spülen“, murmelte sie.
„DU bist dran mit Spülmaschine ausräumen“, sagte Lina, „Und echt jetzt glaubst du ICH spül mit der Hand, während wir eine Spülmaschine haben, die nur noch voll ist mit sauberem Zeug?“
Romy verdrehte die Augen und murmelte unartikuliert unzufrieden vor sich hin. Sie tastete nach einem Handtuch, fand ein Geschirrtuch, das sie nach kurzem Befühlen für sauber genug befand und trocknete sich damit das Gesicht ab.
„Ich mach das gerade echt nicht so gut, oder?“, seufzte sie.
„Nee“, sagte Lina.
„Shit.“
„Ja“, sagte Lina.
„Ich mach das besser, echt“, sagte Romy. „Ich kann das besser. Es ist bloß ich war gestern bis halb sechs unterwegs wegen dieses Scheiß-Rindviechs, und dann wurds schon wieder hell, und ich hab um 10 das letzte Mal auf die Uhr geguckt und dann hab ich aufgehört, weil ich nicht schlafen kann, wenn ich dauernd auf die Uhr gucke, aber ich war danach echt noch lange wach, also bin ich wahrscheinlich um zwölf erst eingeschlafen, und jetzt ist es zwei…“
„Drei!“
„AAAAAaaahh Scheiße warum hab ich denn die Uhr an der Mikrowelle noch nicht umgestellt!“
„Ich sags jetzt nicht, Mama.“
Romy schaute zu Boden. Der war immerhin ziemlich sauber. Staubsaugen und Wischen war auch Linas Job.
„Spaghetti“, sagte Lina.
„Ist doch fein!“
„Wir haben keine Soße.“
„Ja komm, dann bestellen wir halt was.“
„Ich will nicht wieder den fettigen Fraß von Maiks Imbiss.“
Romy mochte Maiks Currywurst echt gerne, aber … dann wohl nicht.
„Der Chinese liefert jetzt auch, wegen Corona.“
„Mama sag nicht immer ‚der Chinese‘, das ist peinlich und … Du weißt schon.“
Romy nickte und zwang sich sehr, nicht mit den Augen zu rollen. ‚Alle sagen das‘, dachte sie. ‚Alle sagen das, verflixt noch mal, aber meine T… mein Kind muss unbedingt mit diesen Antifa-Zecken befreundet sein. Die ich auch nicht so nennen soll. Weiß ich doch. Ist ja auch Mist. Aber alle sagen das!‘
„Aber jedenfalls liefert der auch, ich kann mir halt den richtigen Namen nicht merken!“
„Pronto“, sagte Lina. „Pronto heißen die. Das ist doch echt nicht schwer!“
„Ich denk halt bei chinesischem Essen nicht an Pronto!“
Das war ursprünglich mal ein italienisches Restaurant gewesen, aber war pleite gegangen. Das sagte man doch noch so, oder war das auch falsch?
„Aber ich will auch nichts von Pronto, das ist auch zu teuer und dauert immer mindestens ne Stunde, ich will doch nur schnell was essen, bevor ich zu Baschar muss.“
Baschar war ihr Violinenlehrer.
„Dann gibts Spaghetti“, sagte Romy, „und zwar pronto.“ Lina lachte nicht, aber guckte, als wüsste sie zumindest den Versuch zu schätzen. Irgendwie. „Guck, da hinten ist noch Knoblauch! Haben wir Olivenöl?“
„Rapsöl.“
„Naja das geht bestimmt auch.“
„Können wir die Spaghetti dann braten? Dann schmeckt man das nicht so.“
„Klar“, sagte Romy. „Dauert aber länger.“
„So eilig hab ichs auch wieder nicht. Ist ja erst zwei.“
Romy lächelte gequält.
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Marni schaute zu der Tür des kleinen Polizeireviers wie hinauf zu einem Berggipfel, den sie erklimmen musste und seufzte.
„Du musst aber wirklich nicht mitkommen“, sagte sie zu Ebru.
„Ist mir lieber. Wenns für dich okay ist.“
„Ist okay.“
Marni sah schon die mitleidigen, spöttischen Blicke, und hörte schon den Unterton in der Stimme des*r Beamt*in, die*der gleich ihre … Anzeige aufnehmen würde? Naja. War das eine Anzeige? Marni wusste nicht mal richtig, was das war.
Da würde ihr ein bisschen Beistand gut tun. Außerdem war es nun mal auch psychologisch besser, zu zweit die gleiche Position zu vertreten, statt alleine gegen … mehrere anreden zu müssen. Falls überhaupt noch mehrere Leute da waren, in diesem winzigen Büro in diesem winzigen Kaff um kurz vor halb sechs.
Stellte sich heraus, dass es zwei waren. Zumindest zwei sichtbare.
Natürlich beides Typen, natürlich beide weiß, natürlich beide schon von vornherein sichtbar irritiert von den Personen, die sich da in ihre Bude gewagt hatten.
„Guten Tag“, sagte der ältere von den beiden. Natürlich mit Walrossbart, und mit so einem Ausatmen, das deutlich machte, dass er eigentlich nicht verstand, warum Leute von ihm erwarteten, sich mit sowas abzugeben.
Marni wollte nicht unfair sein, und eigentlich wollte sie auch niemandes Geschlecht einfach aufgrund von Äußerlichkeiten unterstellen und so, aber … Hier war es jetzt gerade sehr schwer.
„Was kann ich denn für Sie tun?“, fragte der Polizist in diesem Tonfall, der eigentlich sagte: ‚Das kann doch echt nicht Ihr Ernst sein, dass Sie von mir erwarten, irgendwas zu tun!“
Natürlich guckte er über Marni hinweg zu Ebru, während er sprach.
„Ich … Wir werden bedroht“, sagte Marni, und fühlte Ebru hinter sich nicken.
Und da war auch schon der erste spöttische Blick, das erste unterdrückte Lächeln, der erste ‚Ach ja klar‘-Gesichtsausdruck.
„Bedroht. Soso. Wie denn?“
Jetzt guckte er immerhin zu Marni runter.
„Können wir da vielleicht … irgendwo vertraulich drüber reden? Muss das hier im Flur sein?“, fragte Ebru.
Und Marni war sich gar nicht so sicher, ob sie das toll fand, dass Ebru sich jetzt in das Gespräch reinhängte. Würde sie vielleicht später mit ihr drüber reden. Jetzt mit ihm gegen sie Partei zu ergreifen, ging nicht.
„Ich wollt halt erst mal klären, worums überhaupt geht“, sagte der Typ. „Entschuldigung.“ Natürlich in diesem ‚Erzählen Sie mir noch, wie ich meinen Job machen muss, das hat mir gerade gefehlt‘-Ton.
Auf seinem Namensschild stand B HAUSKES.
„Darum gehts“, sagte Marni, und hielt ihm ihr Handy hin, mit der WhatsApp-Nachricht.
Er griff nach dem Handy, und sie zog es zurück.
„Das möchte ich lieber behalten, bitte.“
Er zuckte die Schultern und beugte sich über seinen Tresen vor, kniff die Augen zusammen und las demonstrativ angestrengt den Text.
Er lachte auf, aber immerhin auf eine eher beeindruckte als nur spöttische Weise.
Sein Kollege saß währenddessen völlig teilnahmslos an seinem Schreibtisch und klickte gelangweilt auf seinem Computer herum.
„Was fürn Arsch!“, sagte B HAUSKES. „Was haben Sie denn mit dem gemacht?“
Marni verdrehte die Augen.
„Ich hab gar nichts mit dem gemacht“, sagte sie, „Der macht was mit mir, deshalb bin ich bei Ihnen. Sehen Sie ja da.“
„Ja gut“, sagte er. „Aber das kommt doch irgendwoher? Oder kennen Sie den gar nicht?“
„Wir stehen hier immer noch mitten im Flur“, sagte Ebru.
Wenn es gegangen wäre, hätte Marni ihr jetzt vielleicht doch einen diskreten Tritt versetzt, aber es ging nicht, Pun Not Intended.
„Wir können uns gleich ins Separèe begeben“, schmunzelte B HAUSKES gönnerhaft, „Aber erst einmal muss ich Ihr Anliegen richtig einordnen. Bitte beantworten Sie noch die Frage.“
Marni seufzte und sagte: „Ich kenn den gar nicht. Der bedroht mich wegen was, was ich …“ Und jetzt würde sie den letzten Nagel in den Sarg ihrer eigenen Seriosität in den Augen von B HAUSKES schlagen, aber es ging nun mal nicht anders: „ … auf Twitter geschrieben habe.“
Sie sah richtig in seinem Gesicht, wie es passierte.
„Auf Twitter?“, fragte er.
„Mhm“, sagte Marni.
„Na gut, dann kommsema …“
Die Tür hinter Marni flog auf und knallte gegen die Wand. Erschrocken zuckte sie zusammen und dann herum.
Ein*e Polizist*in mit sehr auffälligen langen roten Haaren hetzte durch den Flur auf den Tresen zu und fummelte dabei mit beiden Händen an den besagtem Haaren herum, wohl in dem Versuch, sie irgendwie zusammenzubinden. Ihre Mütze hatte sie unter eine Achsel geklemmt. Sie war ziemlich klein und zierlich, und dieser komische Batgürtel, den Polizist*innen immer trugen und den Marni als absurd martialisch empfand, gerade für ein Land wie Deutschland, wirkte an ihr*ihm noch absurder und auffälliger, weil er mit der dran geklemmten Ausrüstung ihren*seinen Umfang zu verdoppeln schien.
„Tschuldigung Tschuldigung Tschuldigung!“ rief die*der Polizist*in „Ich weiß ich bin zu spät tut mir echt leid ich hab verschlafen und dann hab ich erst im Auto gemerkt dass ich die Waffe im Schrank vergessen hatte und dann musst ich erst noch wieder einparken und dann wieder rauf naja ihr wisst ja wie …“
Sie*er verstummte und blinzelte Marni und Ebru an, als hätte sie*er gerade erst gemerkt, dass die beiden da waren, jetzt, wo sie*er noch ungefähr zwei Meter von ihnen entfernt stehen geblieben war. Sie*er fummelte immer noch an ihren Haaren herum, hatte sie jetzt aber in einem halbwegs erträglichen Pferdeschwanz zusammen, den sie*er nur noch vergeblich in bessere Form zu bringen versuchte.
Über seiner*ihrer rechten Brust prangte auf dem dunkelblauen Hemd ihrer Uniform ein großer Fettfleck, jetzt gerade unter dem Licht des Spots, unter dem sie*er stehengeblieben war, sehr auffällig.
R MENDEL stand auf seinem*ihrem Namensschild.
„Hi Romy“, sagte B HAUSKES, „Gutes Timing eigentlich. Wir haben hier was für dich, ist glaubich eh eher dein Ding.“
„Wie mein Ding was hä?“
R MENDEL ließ schließlich sein*ihre Haare los und schaute verwirrt zwischen seinem*ihrem Kollegen und Marni und Ebru hin und her.
„Die beiden hier werden auf Twitter bedroht“, sagte er, und Marni hörte ihn fast lachen, und ihr wäre dieser Moment so peinlich gewesen, sie hätte sich so geschämt, wenn sie nicht stattdessen so voller Wut auf diesen rücksichtslosen ignoranten Arsch mit Ohren gewesen wäre.
Sie musste ihm fast dankbar sein.
„Ja, werden wir“, sagte sie, „Und wir haben gedacht, dass sie uns da hier vielleicht irgendwie helfen können, so weil das Ihr Job ist zum Beispiel aber irgendwie siehts nicht so aus …?“
„Na, na“, machte B HAUSKES. “Nicht so hastig, wir helfen Ihnen ja. Muss nur alles seine Ordnung haben im Rechtsstaat. Also machst du das, Romy? Ich muss nach Hause.“
„Ach Scheiße“, murmelte R MENDEL, sank ein bisschen in sich zusammen und schaute zu Marni herab mit einer Mischung aus Ratlosigkeit und Selbstmitleid. „Ja klar“, sagte sie resigniert. „Kommen Sie mit bitte? Wolln Sie was trinken? Der Kaffee hier ist zum Kotzen, aber das Wasser ist ganz gut, wenn Sie’s ohne Kohlensäure mögen.“