Generationenschiff (32)


Habt ihr nicht geglaubt? Jetzt seht ihrs!


Was bisher geschah

Im ersten Kapitel begleiteten wir Professor Rodney Advani zu einem Besuch bei Präsidentin Sima, um mit ihr über eine bedrohliche Entdeckung zu reden, lernten Kapitänin Tisha kennen, die ebenfalls gerade eine solche gemacht hat und dafür von Jeanne auf der Brücke eingeschlossen wurde, sahen Banja bei einer nicht sehr glücklichen Prüfung für seine Arbeit als Tinker zu, und wurden Zeuge, wie Jahre später Jole und Kentub darüber beraten, wie sie mit den aktuellen Erkenntnissen über den Planeten umgehen, der das Ziel ihrer Mission sein sollte.

Im zweiten Kapitel hat Piedra zunächst einen Unfall bei einem Außeneinsatz und führt dann ein schwieriges Gespräch mit Psmith, und die Präsidentin entscheidet, die Idee einer KI zur Kontrolle der Mission weiter zu verfolgen.

Im dritten Kapitel debattiert der Besatzung der Humanity über die Vor- und Nachteile einer Landung auf Last Hope versus derer eines Weiterflugs zu einer anderen wirklich allerletzten Hoffnung, Piedra versucht vergeblich, mit Wu über ihren Verdacht gegen Smith zu reden und wendet sich deshalb an Tisha, die gerade gar keine Lust hat, mit so etwas behelligt zu werden, und im Übrigen ist Senator Bowman der Meinung, dass der Planemo vernichtet werden muss.

Im vierten Kapitel wimelt Tisha Piedra ab und sieht mit Jeanne zusammen ein Video von unfassbarer historischer Bedeutung, Nico und Banya fachsimpeln über die Erde und bekommen Besuch von Piedra, und in unserer Zeit versucht Jerry Martinez, die ihn ihre KI gesetzten Erwartungen zu dämpfen.

Im fünften Kapitel folgt Jeanne Kentubs Empfehlung, Tisha will dem Ruf der Natur eigentlich nicht folgen, und Piedra versucht vergeblich, Banya ihren Verdacht gegen Psmith zu erklären.

Im sechsten Kapitel gerät Piedra mit Psmith aneinander, Kentub und Jeanne mit Marchand, und Rodney mit Jerry Martinez.

Im siebten Kapitel verhört Jeanne erst Piedra und dann Tisha, Kentub und Jeanne gehen zu dem Fremden, und Jerry und Rodney diskutieren über die Rettung der Menschheit.

Im achten Kapitel verkündet Jeanne in einer Teambesprechung einige wichtige Neuigkeiten, Kentub versucht, mit dem Fremden zu diskutieren, und Jeanne ernennt ihn zum neuen Kapitän.

Im neunten Kapitel streitet sich Banja zuerst mit Piedra und sagt dann seinem Vater, dass er sie nicht will. Kentub hält das für keine gute Idee.
Später versucht Kentub, die Kampfhandlungen zwischen den verfeideten Fraktionen an Bord der Humanity zu beenden indem er Marchant seine Position nahebringt, während auf Last Hope die Dienerinnen des Ersten Staates von einem neuen Stern erfahren.

Im zehnten Kapitel verbünden Tisha und Piedra sich gegen Psmith, um dann von ihm überrascht zu werden (also, nicht in dem Sinne, das sie sich dafür verbündet haben… Ihr wisst schon. Ja, das ist eine blöde Formulierung. Ich gewöhn sie mir ab.), Rodney besucht die Einrichtung, in der die Kinder für die lange Reise vorbereitet werden, Banja meldet sich freiwillig, und Kentub ringt mit den Konsequenzen seiner Entscheidung.

Im elften Kapitel verabschiedet Banja sich von Nico, Kentub betritt Last Hope, und Rodney lernt Celia kennen.

Im zwölften Kapitel redet Psmith mit Tisha und Piedra, Kentub begegnet Jeanne auf Last Hope, seine Transportgelegenheit verstirbt, und Präsidentin Sima gibt ein Interview.

Im dreizehnten Kapitel sehen wir die Ereignisse zwischen Kentub und Marchant noch einmal aus Marchants Perspektive, Marchant rettet ihn auf Last Hope, und Psmith erklärt weiter seinen diabolischen Plan. Der Schuft.

Im vierzehnten Kapitel berät die Präsidentin über Methoden zur Konservation der Besatzung, Marchant und Kentub reiten auf Jeanne über Last Hope und werden verfolgt, und Psmith wird endlich fertig damit, seinen diabolischen Plan zu erklären. Der Schuft.

Im fünfzehnten Kapitel macht Jeanne der Besatzung eine Ansage, und Kentub und Tisha beraten anschließend mit ihr, wie sie die umsetzen, und in der weiteren Zukunft führen die fremden Kreaturen Jeanne, Kentub und Marchant in die Dunkelheit.

Im sechzehnten Kapitel versucht Jole mit den übrigen Kolonistinnen eine Entscheidung zu treffen, Tisha sägt an Kentubs Stuhl, Marchant ereilt schon wieder sein Schicksal, und Kentub versucht, eine Meuterei zu vermeiden, mit unwillkommenere Hilfe von Jeanne.

Im siebzehnten Kapitel reitet Kentub auf Jeanne zu der toten Riesentermite zurück, die Präsidentin gibt ein Interview, und Banja zweifelt an seinen Entscheidungen.

Im achtzehnten Kapitel beendet Jeanne eine Meuterei, und erst Jole und Nimue und dann Jole, Kentub und Jeanne debattieren über die Zukunft der Kolonie.

Im neunzehnten Kapitel verhandelt Kentub mit Nimue über Ressourcen, diskutiert danach mit Jole und Jeanne die Zukunft der Kolonie, Banja möchte ein Held sein, eine Zeitung berichtet über die Machenschaften der Regierung Sima und Nimue begegnet mit Piri zusammen einem der Termitenwesen.

Im zwanzigsten Kapitel trifft sich die Besatzung im Arboretum, und Banja und Piedra führen ein Gespräch. Präsidentin Sima verschiebt die Wahlen. Und Piri und Nimue erhalten ein Geschenk, und geben eins zurück.

Im 21. Kapitel ersteht Kentub von den Toten auf, oder bleibt eigentlich erst mal liegen, erwacht aber immerhin zum Leben, Banja betritt das Schiff der Fremden und trifft dort 1 alten Bekannten, und Kentub droht, an seinen Kolonist*innen zu verzweifeln, aber dann kommt 1 Raumschiff.

Im 22. Kapitel begegnen Kentub und Banja einander wieder, und Nimue und Psmith führen ein nicht unproblematisches Gespräch.

Im 23. Kapitel erleben wir eine entgleisende Demonstration gegen Präsidentin Simas geheime Projekte.

Im 24. Kapitel reden Kentub und Jole über das Hydrokulurset, Nimue und Psmith über Waffen, Rodney will mit der Präsidentin sprechen, und Jole und Piedra gehen auf eine Reise.

Im 25. Kapitel versucht Nimue vergeblich, schlafen zu gehen, Jole und Piedra versuchen weniger vergeblich, zu Nimues Siedlung zu reisen, und Nimue ist wiederum relativ erfolgreich mit ihrem Versuch, Psmith zu verprügeln, nachdem sie ihm in den Gang gefolgt ist.

Im 26. Kapitel muss Rodney Sima eine schwierige Mitteilung machen, Jole und Piedra erreichen Nimues Siedlung, und Banja plaudert mit dem Fremden.

Im 27. Kapitel bekommt Präsidentin Sima unerwarteten und unwillkommenen Besuch, während Psmith wiederum einen solchen abstattet und angemessen begrüßt wird.

m 28. Kapitel planen Kentub und Jole Verhandlungen mit Nimue, Banja besucht sie, und Präsidentin Sima führt ein weiteres unerquickliches Gespräch mit den beiden Repräsentantinnen.

Im 29. Kapitel
werden Manju und Jim evakuiert, Sima führt ein unerquickliches Gespräch im Krisenraum, Banja, Kentub und Jeanne diskutieren den Wunsch der Fremden nach einer Expedition, Colin Blye findet den Tod, und Banja und Jeanne plaudern noch ein bisschen.

Im 30. Kapitel hält Jole Kentub zurück, während Banja und Jeanne den frisch gegrabenen Tunnel erkunden, und es findet ein großes Palaver in einem virtuellen Raum statt. Abgefahrenes Kapitel, alles in allem.

Im 31. Kapitel verhandelt Nimue mit Jole über die Rationierung von Lebensmitteln zugunsten der Ureinwohnerinnen, die derweil die Kriegerin töten, die sich in der Nachfolge des Menschen Psmith fühlte, und als Cliffhanger werden Kentub, Banja und Jeanne vor der freigelegten Tür von einer Gruppe bedrohlich wirkender Ureinwohnerinnen überrascht.

Was heute geschieht

 

07.30.149
„Aber ich hab Hunger!“, quengelte Piri.
„Ich auch“, antwortete Nimue, ohne sich zu ihm umzudrehen, während sie ihren Schlafsack aus der Verstauung zog.
Piri grinste.
„Wollen wir was essen??“
Nimue lächelte und schüttelte den Kopf.
„Tut mir leid“, sagte sie. „Geht nicht.“
„Warum denn nicht?“
„Weil wir nicht genug haben. Kannst du bitte schon mal deine Liege freiräumen?“
„Manno… Aber können wir nicht ein bisschen …“
„Nein. Können wir nicht.“
Piri verschränkte die Arme und schmollte.
„Wozu sind wir denn überhaupt von Jeanne abgehauen, wenn du jetzt alles genauso machst?“
„Piri, das ist nicht fair! Du weißt, warum das sein muss. Wir haben besprochen, warum das Essen rationiert wird. Erinnerst du dich?“
Piri nickte, widerwillig und immer noch mit vorgeschobener Unterlippe.
„Aber wir können ja mal eine Ausnahme machen. Oder wir stimmen noch mal ab. Können wir noch mal abstimmen? Du wolltest doch, dass alle immer ab-“
„Wir stimmen nicht noch mal ab und …“
„Nimue!“, rief Wu über den Kommunikator.
Sie stöhnte, stand auf und fragte: „Was denn jetzt schon wieder?“
„Das musst du sehen, komm raus?“
„Nein ich komm nicht raus verdammter Mist, ich will auch mal meine Ruhe! Sag mir einfach, was los ist!“
„Tut mir leid, Nimue, du musst rauskommen. Die Termiten sind hier. Viele.“
„Ach Frex natürlich muss das jetzt sein!“
Hektisch fummelte Nimue sich in ihren thermalen Schutzanzug.
„Nein, du bleibst hier“, sagte sie, als Piri Anstalten machte, sich auch anzuziehen.
„Aber ich will auch wissen, was die Termiten wollen!“
„Das erzähl ich dir dann hinterher.“
Piri verschränkte die Arme und schaute über seine Nase zu ihr herab, so gut er das von so weit unten konnte.
„Wenn du das dann überhaupt noch kannst. Was, wenn du mich brauchst, hm?“
„Du kannst über Funk zuhören.“
„Die reden ja nicht!“
„Ich beschreibs dir!“
„Ich wills selber sehen!“
„Piri.“ Nimue hielt in der Bewegung inne, hoppelte etwas näher an ihn heran – sie hätte gerne eine etwas weniger alberne Art der Fortbewegung gewählt, aber ihr Beine hingen schon in dem Anzug fest – und sah ihn direkt an. So ruhig und fest sie konnte, sagte sie: „Du bleibst hier drin. Ich habe keine Ahnung, was da draußen los ist, aber ich will nicht, dass dir was passiert.“
Piri presste die Lippen zusammen.
„Ich will auch nicht, dass dir was passiert!“, stieß er hervor.
Nimue seufzte. Und schnaubte ein Lachen.
„Ich will das auch nicht, glaub mir. Ich tu mein Bestes. Aber du bleibst hier, dann muss ich mir wenigstens nicht auch noch Sorgen um dich machen.“
Er senkte den Kopf.
„Na gut.“
Nimue zog sich zu Ende an, atmete noch einmal tief durch, setzte den Helm auf und kletterte aus der Kapsel.
„Jetzt mach aber auch wieder zu!“, rief Piri ihr nach, „Wenn ich schon nicht mit darf!“
„Ja doch“, knurrte Nimue, und verriegelte die Klappe hinter sich wieder.
Da die Erbauer der Humanity damit gerechnet hatten, dass Last Hope ein bewohnbarer, erdähnlicher Planet war, verfügten die Kapseln über keine Schleusen. Zu Piris großem Bedauern.
„Oh Mann“, murmelte Nimue, als sie auf der Kapsel stand und auf das Lager hinab blicken konnte.
Es waren wirklich ziemlich viele der Ureinwohner gekommen, und … sie sahen … vielleicht nicht so richtig aggressiv aus, aber doch eindeutig bedrohlich.
Einige von ihnen waren die riesigen Termiten, die sie schon kannte und oft gesehen hatte. Aber einige von ihnen waren noch viel größer und mit imposanterer Panzerung. Nicht, dass die schiere Anzahl nicht schon einschüchternd genug gewesen wäre.
Nimue hatte wirklich keine Lust mehr.
Sie hatte nie die Anführerin von irgendwas sein wollen. Sie hatte es nie gelernt, und sie hatte es sich nie gewünscht. Sie hatte nie ihre eigene Siedlung aufbauen wollen, und sie hatte nie diejenige sein wollen, die entschied, wie mit einer Invasion von Rieseninsekten umzugehen ist. Sie war einfach nur müde, ihr war kalt, sie wollte zu Piri in die Kapsel zurück, ihn umarmen und ihm sagen, dass alles gut werden würde. Oder vielleicht umgekehrt es sich von ihm sagen lassen. Und jedenfalls wissen, dass es auch stimmte.
Sie sah die riesigen bedrohlichen Insektenwesen, und sie wusste sehr entschieden nicht, ob alles gut werden würde.
Verdammt noch mal, sie konnte sich mit denen nicht mal verständigen. Kein bisschen. Über den primitiven Austausch von Geschenken hatten sie es immer noch nicht gebracht.
Für einen Moment überlegte sie, wenigstens auf der Kapsel stehen zu bleiben, weil sie sich hier sicherer fühlte, entschied aber, dass das der falsche Ansatz war.
Sie würde nicht fliehen. Sie würde sich nicht einschüchtern lassen. Sie hatte keine Angst. Oder zumindest wollte sie sehr entschlossen keine Angst haben.
Nimue kletterte von der Kapsel herunter und suchte Wu. Sie sah ihn nicht. Aber kaum, dass ihre Füße Last Hopes eisigen Boden berührt hatten, stand schon eine der insektenhaften Ureinwohnerinnen vor ihr.
Nimue trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Das Wesen hatte sich halb aufgerichtet, es stand nur noch auf 4 Beinen und hatte zwei auf eine Weise schräg erhoben, die zumindest auf Nimue bedrohlich wirkte.
Die Mandibeln des Wesens öffneten und schlossen sich, und sie sahen aus dieser Perspektive ausgesprochen groß aus.
Und scharf. Sie sahen aus, als könnten sie mühelos …
Nimue versuchte, nicht weiter über die Mandibeln des Wesens nachzudenken.
„Hallo“, formte sie mit ihrem Mund, einfach um in Stimmung zu kommen, und machte eine Geste, die ihr irgendwie freundlich und einladend vorkam.
Sie sah dem fremden Wesen keine Reaktion an, aber nach ein paar Sekunden trat eines der anderen vor und legte einen der Fungusbrocken vor ihr ab, die sie nun schon öfter von ihnen erhalten hatte.
Sie verneigte sich kurz – Nimue fühlte sich dabei immer gleichzeitig albern und sonderbar bedeutsam, weil sie einerseits auch hier sicher war, dass die Geste den Wesen nichts bedeutete, sich dabei aber immer auch sehr der Besonderheit ihrer Situation bewusst war, und der Fragilität der Verständigung mit einer fremden Spezies, die anders als die Fremden wahrscheinlich nicht einmal auf eine für Menschen erfassbare Art intelligent war.
Beim ersten Mal hatte sie die Geste unwillkürlich ausgeführt, und weil sie beim ersten Mal nicht von riesigen scharfen Mandibeln in Stücke gerissen worden war, hatte sie beschlossen, die Geste auch in Zukunft auszuführen.
Sie hatte nun keine höfliche oder auch nur … ungefährliche Möglichkeit, mit der Situation umzugehen. Sie hatte keinen von den kleinen Kanistern mit Nährflüssigkeit, die sie den Wesen für gewöhnlich als Gegengeschenk überreichte.
Es war das erste Mal, dass die Ureinwohnerinnen so überraschend erschienen waren.
Sie musste einen Kanister holen.
Nimue hob beide Arme mit den Handflächen nach außen in Richtung der Ureinwohnerin von Last Hope in der Hoffnung, dass sie verstehen würde, dass sie nur kurz abwarten musste, um ihr Geschenk zu bekommen.
Nimue eilte zu dem Container, in dem sie die Kanister aufbewahrten, und nahm einen heraus. Sie trug ihn zu der Ureinwohnerin, präsentierte ihn und stellte ihn so nah vor ihre Vorderfüße, wie sie sich traute, was heute weniger nah war als sonst.
Mit der gewohnten Geste, von der sie hoffte, dass sie so etwas wie Ehrerbietung und ‚Hier, das ist für euch!‘ Zum Ausdruck brachte, trat sie zurück – gerade rechtzeitig, um nicht mit der Nährlösung bespritzt zu werden, als die Ureinwohnerin von Last Hope mit beiden Forderbeinen den Kanister zerschlug und den Inhalt auf dem gefrorenen Boden verteilte.
„Was ist …?“, murmelte Nimue, während sie zurück taumelte.
Um sich herum hörte sie Schreie der Angst und Überraschung und verblüfftes Raunen von den anderen.
„Was?“, fragte sie noch einmal, lauter, und mit der angemessenen Entrüstung.
Nicht, dass das Wesen das hätte heraushören können.
Die Ureinwohnerin schritt über den zerquetschten, immer noch grünliche Nährlösung leckenden Kanister hinweg auf Nimue zu.
Wenig Zeit für eine große Entscheidung.
Stehenbleiben und vielleicht das gleiche Ende finden wie der Kanister?
Oder laufen und damit vielleicht die Beziehungen zu den Ureinwohnerinnen ruinieren, dieses spezielle Exemplar womöglich weiter provozieren und schließlich doch das gleiche Ende finden wie der Kanister?
Ihr missfiel der Gedanke daran, zerquetscht auf dem eisigen Boden zu liegen und in den Schnee zu bluten, aber ihr missfiel der Gedanken daran, erst feige davonzulaufen und dann in den Schnee zu bluten, noch viel mehr.
Nimue blieb stehen.
Die Ureinwohnerin blieb auch stehen.
Und Nimue bemerkte, dass eine der anderen, eine sehr große, mit sehr auffälligen Vorderbeinen mit scharfkantigen stachelähnlichen Auswüchsen daran, die zusammen fast eine sägeähnliche Struktur bildeten …
„Oh Gott was passiert jetzt was ist was soll das?“, murmelte Nimue, als die zweite Ureinwohnerin, die größere, hinter der ersten stehen blieb, sie packte und ihr mit den sägeähnlichen Vorderbeinen den Kopf abriss und ihn auf den Boden warf. Mit einer Geste, die für Nimue abwertend und grausam aussah, aber wahrscheinlich wie alles, was die Ureinwohnerinnen taten, nur pragmatisch und faktisch war, schob die größere Ureinwohnerin den toten Körper ihre Schwester auf Nimue zu.
„Was …?“
Nimues Gedanken rasten.
Die – Nimue entschied, dass das ein passender Name war – Soldatin packte eine andere Ureinwohnerin und durchbohrte ihren Panzer mit einem ihrer kräftigen Arme. Gelblichweiße Flüssigkeit sickerte aus dem Lock und den Rissen hervor, an der noch zuckenden Leiche hinab und über den hervorstehenden Teil des Armes.
Welche unfassbare Kraft in diesem Stoß gesteckt haben musste, der so mühelos das Exoskelett des riesigen Wesens durchdrungen hatte, darüber wollte sie jetzt gar nicht nachdenken.
Nimue hatte natürlich immer Respekt vor den Ureinwohnerinnen gehabt, war sich aber immer sicher gewesen, dass Jeanne ihnen zumindest in einer direkten Konfrontation überlegen war, auch wenn das wegen ihrer vermutlich überwältigenden Überzahl auch kein Schutz gewesen wäre. Aber nun war sie sich nicht einmal da mehr sicher.
Es blieb die Hoffnung auf eine Verständigung, oder vielleicht auf die Fremden.
Die Soldatin warf auch den zweiten toten Körper vor Nimue auf den Schnee und streckte nun seine zwei zackigen Arme aus, der rechte immer noch beschmiert mit … Blut? Hämolymphe? Der Kreislaufflüssigkeit der kleineren Ureinwohnerin, deren Zucken noch immer nicht aufgehört hatte.
Nimue fürchtete, zu ahnen, was die Soldatin ihr kommunizieren wollte. Aber sie wollte es nicht akzeptieren. Sie wollte nicht vor dieser Entscheidung stehen.
Aber sie wollte auch nicht, dass …
Eine dritte Arbeiterin stakste auf die Soldatin zu. Natürlich sah Nimue ihr nicht an, ob sie wusste, was sie erwartete; ob sie sich fürchtete; ob sie überhaupt irgendetwas dachte oder fühlte.
Strickleiternervensystem.
Die Soldatin packte auch diese Arbeiterin, und diesmal biss sie ihr den Kopf vom Rumpf. Sie hob den Körper auf und trug ihn auf Nimue zu.
„Nein.“
Die Soldatin blieb erst stehen, als Nimue schon dreimal vor ihr zurückgewichen war. Sie blieb erst stehen, als Nimues Nasenspitze beinahe den Panzer der toten Arbeiterin in den Klauen der Soldatin berührte. Und dann legte sie den Körper ihrer Schwester (falls die Ureinwohnerinnen tatsächlich wie irdische Termiten alle diese Mutter hatten) ganz langsam und bedächtig vor Nimue auf den Schnee.
„Nein!“
Die Soldatin streckte die nun (beinahe) leeren Arme
Strickleiternervensystem
aus und verharrte, abwartend, in der völligen Reglosigkeit, zu der insektoide Wesen in der Lage waren.
„Nein.“
Nimue war sich nun sicher, dass sie richtig verstand, auch wenn sie es immer noch nicht wollte.
„Nein.“
******************************************
„Warum warnt sie uns nicht wenigstens irgendwie?“, fragte Kentub.
„Wir habens doch gesehen!“, antwortete Banja.
„Aber sie hätte uns zumindest vorher warnen können!“
„Wozu? Wir können doch eh nichts machen.“
„Naja, ich nicht“, gestand Kentub ein, „Aber ich bin ja auch kein biomechanisch von einer überlegenen Spezies verbesserter Supermensch wie mein Sohn!“
Banja sah ihn nur an, mit leicht gehobenen Augenbrauen und leicht geschürzten Lippen.
„Ja…“, murmelte Kentub. „Du denkst auch nicht, dass sie kommen, um uns ganz schnell mit der Tür zu helfen, oder?“
Banja seufzte, senkte resigniert den Kopf und stellte sich vor Kentub in den Gang, den die Ureinwohnerinnen von Last Hope gegraben hatten.
„Aber du weißt auch nicht, was jetzt auf einmal los ist, richtig? Ich bin nicht der einzige, der das jetzt nicht versteht?“, fragte Kentub Banjas Rücken.
Er erhielt wieder keine Antwort.
Das hielt ihn nicht davon ab, weiter zu fragen. Immerhin, so dachte Kentub, war dies möglicherweise sein allerletztes Gespräch mit seinem Sohn.
„Ganz im Ernst: Wenn die uns jetzt tatsächlich angreifen wollen, kannst du dann etwas tun? Was? Und kann ich irgendetwas beitragen?“
Nicht die besten letzten Worte, die je ein Vater zu seinem Sohn gesprochen hatte. Aber mit völliger Sicherheit auch nicht die schlechtesten.
„Du kannst den Mund halten und mich nicht ablenken“, antwortete Banja.
„Ich hatte so etwas in der Richtung befür-“
Banjas Kopf wirbelte herum. Vielleicht ein bisschen weiter, als an einem unmodifizierten Menschen gesund war. Kentub nickte und hielt einen Finger vor die Lippen. Banja nickte zurück und schaute wieder in den Tunnel, wo Jeann gerade zwischen ihm und den Ureinwohnerinnen zum Stehen kam. Der Platz hätte für sie kaum gereicht, um sich umzudrehen, aber das musste sie aufgrund ihrer Bauart auch nicht.
Kentub hatte nicht viel Respekt vor den Alten, aber er musste anerkennen, dass die Erbauer*innen von Jeanne ihre Arbeit verdammt gut gemacht hatten.
Und doch wirkte sie, trotz Titanchassis und ausgerichteter Geschütze, bedauerlich klein, und unbedeutend, fast fragil, vor der riesigen, blutroten, stacheligen Kriegerin(?), die ihr gegenüberstand, vor einer langen Reihe aus weiteren Ureinwohnerinnen.
Er öffnete den Mund, bevor ihm wieder einfiel, worum Banja ihn gebeten hatte. Er schloss ihn wieder.
Und öffnete ihn wieder, als ihm das Kinn herunterfiel, als die riesige Kriegerin einen ihrer gewaltigen Arme, deren Enden fast an mittelalterliche Waffen oder Folterwerkzeuge erinnerte, hob – und sich selbst in den Leib stieß.

4. Januar 2059
Präsidentin Sima erwachte vom Geräusch der sich öffnenden Zellentür. Sie schaute blinzelnd ins grelle Licht der Leuchtstoffröhren und sah drei Figuren auf sich zukommen.
Nachdem sie ein wenig geblinzelt hatte, lösten ihre Augen den verschwommen-grellen Matsch auf zu einer uniformierten Polizistin, Generalin Hurst und Verteidigungsminister Shubert.
„Die Kapitulation.“
„Ist.“
„Bedingungslos.“
Sima stützte einen Arm gegen die Wand ihrer Zelle und stöhnte.
„Ich kann nicht behaupten, dass …“
„Sie.“
„Haben.“
„Eine Aufgabe.“
Sima richtete sich widerwillig auch und verschränkte die Arme.
„Ist das so?“
„Die Kapitulati“
„Ja, ja, ich weiß. Bedingungslos. Und ihr habt eine Aufgabe für mich.“
„Die, deren Repräsentant*innen wir sind, haben Ihnen eine Aufgabe.“
„Zugewiesen.“
Sima nickte.
„Ich … habe keinen Zweifel, dass das für euch eine wesentliche Unterscheidung ausmacht.“
Alle drei nickten.
Nach einer etwas zu lange Pause fragte Sima: „Und … was ist die Aufgabe? Was soll ich tun?“
„Die der Ihren technologisch wie auch kulturell weit überlegene Spezies.“
„Wertschätzt und anerkennt Ihre Fertigkeiten im Führen großer Gruppen Ihrer eigenen Spezies.“
„Und hat aus diesem Grund eine Ihren Fertigkeiten gemäße Verantwortung für Sie vorgesehen.“
„… Danke? Ich … Entschuldigung, ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Sagen Sie mir bitte einfach, was die Aufgabe ist. Ihre … Schmeicheleien, oder Lob, falls es das überhaupt sein soll, interessiert mich nicht.“
„Die der Ihren weit.“
„In jeder Hinsicht.“
„Nach jedem denkbaren Maßstab.“
„Und auch nach einigen für Mitglieder Ihrer Spezies nicht denkbaren.“
„Überlegene Spezies beabsichtigt, Ihnen die Führung über die Menschheit zurückzugeben.“
„Ich will nicht kleinlich sein, aber ist der unfassbar super-überlegenen Überspezies klar, dass ich nie die Führung über die gesamte Menschheit innehatte?“
„Dies wird.“
„Für die Ihnen zugewiesene Aufgabe.“
„Kein Hindernis darstellen.“

Lesegruppenfragen
1. Fandet ihr das Kapitel verwirrender als die anderen?
2. Was denkt ihr, was mit den Ureinwohnerinnen los ist?
3. Findet ihr es eigentlich auch problematisch, dass Nimue jetzt von dieser Mutterrolle so dominiert wird? Da hat mich mein Sexismus erwischt, tut mir leid. Hätte ich vorher drüber nachdenken sollen.
4. Was glaubt ihr, wie viel noch kommt?

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