Generationenschiff (24)


Mit neuer Motivation von einer neuen Idee, die mich hoffentlich bis zum Ende dieses ja doch etwas schleppend verlaufenden Projekts trägt, endet das zweite Dutzend der Generationenschiff-Kapitel.

Auf ein Neues!

Was bisher geschah

Im ersten Kapitel begleiteten wir Professor Rodney Advani zu einem Besuch bei Präsidentin Sima, um mit ihr über eine bedrohliche Entdeckung zu reden, lernten Kapitänin Tisha kennen, die ebenfalls gerade eine solche gemacht hat und dafür von Jeanne auf der Brücke eingeschlossen wurde, sahen Banja bei einer nicht sehr glücklichen Prüfung für seine Arbeit als Tinker zu, und wurden Zeuge, wie Jahre später Jole und Kentub darüber beraten, wie sie mit den aktuellen Erkenntnissen über den Planeten umgehen, der das Ziel ihrer Mission sein sollte.

Im zweiten Kapitel hat Piedra zunächst einen Unfall bei einem Außeneinsatz und führt dann ein schwieriges Gespräch mit Psmith, und die Präsidentin entscheidet, die Idee einer KI zur Kontrolle der Mission weiter zu verfolgen.

Im dritten Kapitel debattiert der Besatzung der Humanity über die Vor- und Nachteile einer Landung auf Last Hope versus derer eines Weiterflugs zu einer anderen wirklich allerletzten Hoffnung, Piedra versucht vergeblich, mit Wu über ihren Verdacht gegen Smith zu reden und wendet sich deshalb an Tisha, die gerade gar keine Lust hat, mit so etwas behelligt zu werden, und im Übrigen ist Senator Bowman der Meinung, dass der Planemo vernichtet werden muss.

Im vierten Kapitel wimelt Tisha Piedra ab und sieht mit Jeanne zusammen ein Video von unfassbarer historischer Bedeutung, Nico und Banya fachsimpeln über die Erde und bekommen Besuch von Piedra, und in unserer Zeit versucht Jerry Martinez, die ihn ihre KI gesetzten Erwartungen zu dämpfen.

Im fünften Kapitel folgt Jeanne Kentubs Empfehlung, Tisha will dem Ruf der Natur eigentlich nicht folgen, und Piedra versucht vergeblich, Banya ihren Verdacht gegen Psmith zu erklären.

Im sechsten Kapitel gerät Piedra mit Psmith aneinander, Kentub und Jeanne mit Marchand, und Rodney mit Jerry Martinez.

Im siebten Kapitel verhört Jeanne erst Piedra und dann Tisha, Kentub und Jeanne gehen zu dem Fremden, und Jerry und Rodney diskutieren über die Rettung der Menschheit.

Im achten Kapitel verkündet Jeanne in einer Teambesprechung einige wichtige Neuigkeiten, Kentub versucht, mit dem Fremden zu diskutieren, und Jeanne ernennt ihn zum neuen Kapitän.

Im neunten Kapitel streitet sich Banja zuerst mit Piedra und sagt dann seinem Vater, dass er sie nicht will. Kentub hält das für keine gute Idee.
Später versucht Kentub, die Kampfhandlungen zwischen den verfeideten Fraktionen an Bord der Humanity zu beenden indem er Marchant seine Position nahebringt, während auf Last Hope die Dienerinnen des Ersten Staates von einem neuen Stern erfahren.

Im zehnten Kapitel verbünden Tisha und Piedra sich gegen Psmith, um dann von ihm überrascht zu werden (also, nicht in dem Sinne, das sie sich dafür verbündet haben… Ihr wisst schon. Ja, das ist eine blöde Formulierung. Ich gewöhn sie mir ab.), Rodney besucht die Einrichtung, in der die Kinder für die lange Reise vorbereitet werden, Banja meldet sich freiwillig, und Kentub ringt mit den Konsequenzen seiner Entscheidung.

Im elften Kapitel verabschiedet Banja sich von Nico, Kentub betritt Last Hope, und Rodney lernt Celia kennen.

Im zwölften Kapitel redet Psmith mit Tisha und Piedra, Kentub begegnet Jeanne auf Last Hope, seine Transportgelegenheit verstirbt, und Präsidentin Sima gibt ein Interview.

Im dreizehnten Kapitel sehen wir die Ereignisse zwischen Kentub und Marchant noch einmal aus Marchants Perspektive, Marchant rettet ihn auf Last Hope, und Psmith erklärt weiter seinen diabolischen Plan. Der Schuft.

Im vierzehnten Kapitel berät die Präsidentin über Methoden zur Konservation der Besatzung, Marchant und Kentub reiten auf Jeanne über Last Hope und werden verfolgt, und Psmith wird endlich fertig damit, seinen diabolischen Plan zu erklären. Der Schuft.

Im fünfzehnten Kapitel macht Jeanne der Besatzung eine Ansage, und Kentub und Tisha beraten anschließend mit ihr, wie sie die umsetzen, und in der weiteren Zukunft führen die fremden Kreaturen Jeanne, Kentub und Marchant in die Dunkelheit.

Im sechzehnten Kapitel versucht Jole mit den übrigen Kolonistinnen eine Entscheidung zu treffen, Tisha sägt an Kentubs Stuhl, Marchant ereilt schon wieder sein Schicksal, und Kentub versucht, eine Meuterei zu vermeiden, mit unwillkommenere Hilfe von Jeanne.

Im siebzehnten Kapitel reitet Kentub auf Jeanne zu der toten Riesentermite zurück, die Präsidentin gibt ein Interview, und Banja zweifelt an seinen Entscheidungen.

Im achtzehnten Kapitel beendet Jeanne eine Meuterei, und erst Jole und Nimue und dann Jole, Kentub und Jeanne debattieren über die Zukunft der Kolonie.

Im neunzehnten Kapitel verhandelt Kentub mit Nimue über Ressourcen, diskutiert danach mit Jole und Jeanne die Zukunft der Kolonie, Banja möchte ein Held sein, eine Zeitung berichtet über die Machenschaften der Regierung Sima und Nimue begegnet mit Piri zusammen einem der Termitenwesen.

Im zwanzigsten Kapitel trifft sich die Besatzung im Arboretum, und Banja und Piedra führen ein Gespräch. Präsidentin Sima verschiebt die Wahlen. Und Piri und Nimue erhalten ein Geschenk, und geben eins zurück.

Im 21. Kapitel ersteht Kentub von den Toten auf, oder bleibt eigentlich erst mal liegen, erwacht aber immerhin zum Leben, Banja betritt das Schiff der Fremden und trifft dort 1 alten Bekannten, und Kentub droht, an seinen Kolonist*innen zu verzweifeln, aber dann kommt 1 Raumschiff.

Im 22. Kapitel begegnen Kentub und Banja einander wieder, und Nimue und Psmith führen ein nicht unproblematisches Gespräch.

Im 23. Kapitel erleben wir eine entgleisende Demonstration gegen Präsidentin Simas geheime Projekte.

Was heute geschieht

11.25.149
„…. und dafür brauchen wir das Hydrokulturset!“
Kentub nickte zufrieden, und ein bisschen stolz, dass er selbst drauf gekommen war.
Jole musste ihn enttäuschen: „Zu schade, dass wir das nicht haben, hm?“
„Wie haben wir nicht? Was haben wir nicht? Warum haben wir nicht?“
„Das Hydrokulturset hat Nimues Siedlung.“
Kentub zog die Brauen zusammen und schüttelte den Kopf.
„Aber ich hab Berku doch vorhin noch gesehen! Was macht der dann hier!“
„Der gehört zu unserer Gruppe, verflixt hast du denn gar nicht aufgepasst?“
Jole lehnte sich in xiesem Stuhl zurück – xier hätte nie gedacht, dass xier die Sessel der Humanity mal vermissen würde – und schaute Kentub tadelnd an.
„Kaum. Aber was ist denn das für ein Schwachsinn, dass Nimues Leute die Hydrokultur haben, und wir haben Berku?`“
Jole zuckte die Schultern.
„Ich arbeite nur hier, glorreicher Anführer.“
Kentub grunzte, zog senkrechte Falten in seine Stirn und schaute zu Boden.
„Naja“, sagte er, und blickte wieder auf. „Irgendwie ist es ja fair. Ohne die Hydrokultur ist es schwerer, und ohne Berku würden wir das nie schaffen.“
„Glaubst du denn, wir schaffen es mit?“
„Keine Ahnung, bin ich Berku?“
„Soll ich ihn holen?“
„Bitte ja. Oder lass, ich geh schon. Muss eh mal wieder raus hier. War das Schiff auch so muffig? Da hatte ich nicht dauernd das Bedürfnis, rauszugehen.“
„Vielleicht weil du einfach ein sehr vernünftiger Kapitän bist?“
„Ha, ja, klar!“
*****************************
„Waffen“, sagte Psmith.
„Waffen?“, fragte Nimue. „Was sollen wir denn mit Waffen?“
„Vorbereitet sein.“
„Auf was? Hier ist doch niemand, der uns angreife – was, worüber lachst du?“
„Sogar falls dir die Riesentermiten nicht aufgefallen sind – denkst du noch an Kentub?“
Sie schnaubte und schüttelte den Kopf.
„Kentub ist ein Idiot, aber er wird uns nicht angreifen. Jetzt lachst du schon wieder. Was soll das?“
„Ich will dich verunsichern“, sagte Psmith.
„Lass es. Und hör endlich auf, zu lachen, verdammt!“
„Wenn du eine Waffe hättest, könntest du mich zwingen.“
„Erstens glaub ich dir das nicht, und zweitens ist es dann ja umso besser, dass ich keine hab. Ich will mit sowas gar nicht erst anfangen.“
„Mit dem Aufhören?“
Nimue verdrehte die Augen.
„Ich verstehe, dass sie dich verbannt haben. Und ich bewundere sie für ihre Geduld, damit zu warten, bis draußen ein anderes Schiff bereitstand. Da. Jetzt lachst du immerhin nicht mehr. Gut.“
„Lass uns weiter über Waffen reden.“
„Ich will keine verdammten Waffen! Ich will Werkzeuge. Ich will Unterkünfte. Ich will Nahrung, und Wasser, und … Produktion! Du willst mir doch nicht erzählen, dass die Fremden dich zurückgeschickt haben, um uns Waffen zu verkaufen, das ist doch völlig lächerlich.“
„So allmählich verstehst dus.“
„Ich verstehe gar nichts.“
Psmith grinste und nickte heftig.
„Richtig. Super. Weiter so!“
„Ich frage mich“, sinnierte Nimue, „ob die Fremden dich hierher geschickt haben, um uns zu bestrafen. Oder dich.“
„Die denken nicht in solchen Kategorien.“
„Was weißt du darüber, wie sie denken?“
Er breitete in einer vagen Geste der Ahnungslosigkeit die Arme aus.
„Fast nichts“, erwiderte er. „Aber mehr als du, und genug, um zu sagen, dass sie nicht in solchen Kategorien denken.“
„Sondern?“
„Keine Ahnung, aber welche Kategorien auch immer wir uns überlegen, sind garantiert welche, von denen man sagen kann, dass sie in denen nicht denken.“
Nimue verdrehte noch einmal die Augen und stöhnte.
„Trag was Nützliches bei, oder hau bitte ab.“
„Ich kann was Nützliches beitragen.“
„Bitte!“
„Ich kann euch sagen, wo wir siedeln sollten“, sagte Psmith.
„Oh! Das wäre wirklich nützlich, wenn ich dir irgendwie vertrauen könnte.“
„Komm schon, ich hab immerhin ‚wir‘ gesagt!“
„Ja, beim zweiten Mal.“
„Und wenn ich außerdem noch schwöre, dass ich nicht noch mal alle vergifte?“
Er setzte sein freundlichstes Lächeln auf. Es war immer noch eins, das Nimue trotz der Kälte von Last Hope noch kältere Schauer über den Rücken laufen ließ.
Sie zögerte kurz, bevor sie antwortete:
„Ist wieder schlechter geworden jetzt.“
Er schmunzelte spitzbübisch und zuckte die Schultern.
„Ich habs versucht.“
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15. Juni 2056
„Ach du heiliger …“
Rodney bremste seinen Van allmählich ab und begann, sich nach einem Ort umzusehen, an dem er ihn abstellen konnte.
Das Weiße Haus war mehrfach blockiert.
Rodney konnte einen ersten Ring aus Polizist*innen, gepanzerten Fahrzeugen, Absperrungen und normalen Streifenwagen sehen. Dahinter kam eine ganze Menge Demonstrant*innen, deren Transparente eine bemerkenswerte Streuweite aufwiesen von „Kein Steuergeld für China!“ über „Army abschaffen JETZT!“ bis „Diktatorin Sima vor Gericht!“
Die Lage schien nicht unmittelbar bedrohlich, aber auch alles andere als entspannt. Die Beamten waren bewaffnet, und weiter hinten an den Grenzen des Grundstückes des Weißen Hauses sah er große Scheinwerfermasten, am Himmel schwebte ein Hubschrauber, der auch nur durch sein gleißendes Auge erkennbar war, und die Sprechchöre der Demonstrierenden klangen durchaus bedrohlich.
Andererseits fand Rodney es immer vage bedrohlich, wenn große Menschenmassen gleichzeitig etwas riefen.
Da aber zumindest keine unmittelbare Gefahr einer staatsgefährdenden Eskalation ersichtlich war, zwang er sich, sich auf die Parkplatzsuche zu konzentrieren. Er fand schließlich einen Ort, auf dem sein Fahrzeug zwar unter normalen Umständen sicherlich bald abgeschleppt worden wäre, an dem nach seiner Einschätzung aber zumindest nicht zu befürchten war, dass eines der gepanzerten Einsatzfahrzeuge es versehentlich oder mit Absicht rammen würde. Das reichte ihm.
Er stieg aus und ging in Richtung der Polizeiabsperrung, einfach, weil ihm nichts Besseres einfiel. Er suchte sich von all den Polizist*innen den heraus, der ihm am wenigsten grimmig und anderweitig beschäftigt vorkam.
Er zog sein Portemonnaie aus der Jackentasche und zeigte seinen Hausausweis und die Unbedenklichkeitsbescheinigung.
„Rodney Advani“, sagte er. „Ich muss dringend durch.“
Der Polizist lächelte mitleidig und zeigte damit, dass Rodney ihn nicht völlig falsch eingeschätzt hatte.
„Buddy, das hier ist die Schlange, stellen Sie sich gerne an.“
Rodney lächelte kurz mit, um nicht als arroganter Wichtigtuer dazustehen, beseitigte das Lächeln dann, so gut er konnte, um jeglichem Verdacht vorzubeugen, er würde scherzen.
„Nein wirklich. Es ist wichtig, ich muss mit der Präsidentin sprechen. Wie … geht das zurzeit?“
Der Polizist – auf seinem Namensschild stand ‚Stevens‘ – schaute von links nach rechts, drehte sich um, und sah Rodney wieder an.
Zu dessen Erleichterung war sein Gesichtsausdruck zwar immer noch ziemlich resigniert, aber immerhin nicht mehr nur mitleidig-belustigt.
„Zeigen Sie mir noch mal die Papiere bitte“, sagte Officer Stevens.
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29.25.149
Kentub war aufgestanden, um wie früher auf und ab zu tigern. Und Jole dachte gleichzeitig, dass xier ihn darum beneidete, weil die verdammten faltbaren Stühle wirklich unbequem waren, und dass xier noch vor Kurzem sehr erstaunt gewesen wäre, wenn xiem jemand gesagt hätte, dass sie auf Last Hope noch weniger Platz haben würden als an Bord des Generationenschiffes.
„Wir brauchen einen vernünftigen Kommunikationskanal“, sagte Kentub.
„Ich bin nicht sicher, ob wir rote Telefone an Bord hatten“, antwortete xier, „Aber jedenfalls haben es keine davon bis runter auf Last Hope geschafft.“
„Mach dich nur lustig, aber weißt du, wie weit unser Funkkontakt reicht?“
„Da es auf der Oberfläche kaum Hindernisse gibt, doch sicherlich zehn Kilometer, oder sogar 20.“
„Ja, denkst du. Und warum können wir Nimue dann nicht erreichen?“, fragte Kentub.
„Vielleicht, weil sie genug davon hat, mit dir zu reden?“, schlug Jole vor. „Kommt mir mitunter ganz naheliegend vor, die Möglichkeit.“
„Ja gut. Könnte sein. Aber wir sollten dann erst recht irgendetwas abstimmen, damit wir uns im Notfall … abstimmen können. Du weißt schon!“
„Ein Codewort vielleicht, wenn du nicht nur blödeln willst? Noch so eine Idee, die ich selbst auch ganz nützlich fände.“
„Ich blödele nicht, ich will, dass wir was zu essen haben, auch wenn die Humanity-Vorräte aufgebraucht sind!“
„Dann solltest du vielleicht jemanden schicken, um zu ihnen zu gehen“, sagte xier.
„Ich kann auch selber gehen“, antwortete er.
„Du bist der Anführer. An Bord der Humanity war das vielleicht okay, da war die größte Entfernung 52 Meter, und das Schlimmste, was dir passieren konnte, ein angestoßener kleiner Zeh. Hier ist das anders.“
„Wieso ist das anders? Wer ist jetzt gerade wichtiger, ein Anführer oder ein Gärtner?“
„Ein Anführer.“
„Ihr habt immer noch Nimue, wenn ich erfriere.“
Jole grinste sarkastisch.
„Nimue und Jeanne werden sicher ein hervorragendes Team.“
„Du hast mich überzeugt, ich bleibe hier. Aber wer geht dann? Wir können nicht ernsthaft Berku schicken.“
„Warum nicht?“
„Naja, sie haben schon das Hydrokulturset. Wenn wir ihnen auch noch Berku schicken, geben sie ihn nicht wieder her. Wer ist denn am nutzlosesten für jemanden mit einem Hydrokulturset?“
„Wie wär’s mit Piedra? Hülleninstandhaltung dürfte nicht Nimues größte Sorge sein, und Piedra ist auf jeden Fall abenteuerlustig genug, um sich sogar über die Aufgabe zu freuen.“
Kentub nickte.
„Sollten wir ihr vorsichtshalber irgendwas wie eine Waffe mitgeben?“, schlug er vor.
„Eine Waffe?“, fragte Jole. „Wozu, was soll sie damit?“
„Vorbereitet sein?“, bot Kentub an.
„Auf was? Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Nimue …?“
Xier war von dem Vorschlag ernsthaft verblüfft. Obwohl xier zugeben musste, jetzt, da xier anfing, darüber nachzudenken, und xiem die riesigen Aliens wieder einfielen …
„Ich kenne Piedra“, sagte Kentub. „Ich wär nicht mal überrascht, wenn ich sie irgendwann angreifen würde.“
„Warum willst du sie dann bewaffnen?“
„Damit sie bis dahin überlebt.“
Jole schüttelte den Kopf und strich sich Haare aus dem Gesicht, blinzelte – und entschied, den Punkt auf sich beruhen zu lassen.
„Soll sie denn alleine gehen, oder wollen wir noch jemanden mitschicken?“, fragte xier. „Ich würde mich anbieten, schon aus Neugier.“
„Na aber, wenn ich hier bleiben muss, musst du auch!“
„Wieso? Ich bin nicht die Kapitänin, ich hab überhaupt keine Führungsrolle für irgendwen.“
„Wärst du denn Kapitänin? Oder wie geht das mit deinem neuen Status? Kapitäx klingt gut, oder? Wär ich glaubich auch ger… Tschuldigung.“
„Ich bin die Astrophysikerin.“ Xier sprach das Wort bewusst deutlich aus, um klar zu machen, was für xien die richtig Antwort war, und dass xier keine weiteren Witze darüber hören wollte. „Mein Job ist doch eh so gut wie erledigt.“
„So funktioniert das nicht, Jole“, jammerte Kentub. „Du bist die Vernunft zu meiner … kindlich schrankenlosenen Kreativität!“
„Und ich kann dir gar nicht sagen, wie leid ich es bin, dass du das so siehst.“
„Achnaja.“
„Nein ehrlich“, bekräftigte xier. „Aber wir müssen das jetzt nicht diskutieren. Ich würd wirklich gerne gehen, und ich komme ja sogar wieder.“
„Wenn alles gut geht.“
„Auch wenn nicht alles gut geht.“
„Siehst du, wie wichtig du für mich bist!“
Jole verschränkte die Arme und stöhnte. Und sah Kentub an und tippte mit der rechten Fußspitze auf dem Boden.
„Ja was?“ Er warf die Arme in die Luft und bließ frustriert Luft durch halb verschlossene Lippen. „Wenn du wirklich willst, kannst du gehen, was soll ich denn machen? Aber wärs nicht klüger, wenn Jeanne mitgeht?“
„Auch zu wichtig“, sagte Jole. „Noch wichtiger als du. Und außerdem die, die wirklich dafür gedacht ist, deine Vernunft zu sein, und das auch gerne übernimmt.“
„Aber auch so gut wie unverwundbar. Was soll ihr schon passieren?“
„Sogar wenn nichts passiert, ist sie für die Dauer der Expedition weg und steht der Siedlung nicht zur Verfügung. Überleg mal, was da alles passieren kann.“
Kentub seufzte, und senkte den Kopf. Eine Weile stand er so da, dann zuckte er schließlich die Schultern und sah Jole wieder ins Gesicht.
„Klar. Wenn du mit Piedra gehen willst, geh mit.“
Für einen Moment richtete er sich wieder auf, und Hoffnung schimmerte in seinen Augen.
„Oder übersehe ich gerade, dass eine, oder ein… eine, oder? Okay. Eine von euch beiden mal Probleme mit Nimue hatte, oder keinen Frost verträgt, oder sowas?“
Jole lächelte und schüttelte den Kopf.
„Soweit ich weiß, hatten wir auch beide keine besonders gute Beziehung zu ihr, aber nein, keine Probleme. Und wenn Piedra keine Kälte vertrüge, hätte sie keine Hüllenmechanikerin werden können.“
Er seufzte noch einmal.
„Ja gut. Verstehe. Dann mal los. Sucht euch, was ihr an Ausrüstung braucht, nehmt lieber ein bisschen zu viel mit als zu wenig, wer weiß, wie lange ihr braucht, um sie zu finden, und dann sprecht das am besten noch mal mit Jeanne ab. Vielleicht hat sie ja auch noch eine Meinung zu der Frage.“
„Wir kriegen das hin.“
„Da bin ich sicher. Kommt wieder, bitte.“
„Klar. So bald wie möglich.“
*************************************
Jole und Piedra hielten das Fahrzeug an und stiegen umständlich ab. Ständig in den thermischen Schutzanzügen zu stecken war immer noch ungewohnt genug, dass fast alle der Siedler*innen mehrmals täglich stürzten. Zum Glück war die Polsterung dick und robust genug, dass dabei noch kein ernsthafter Schaden entstanden war.
Sie hatten eine Weile überlegt und diskutiert, ob sie das improvisierte Schneemobil überhaupt haben wollten, hatten sich aber schließlich von Trevo überzeugen lassen, nicht nur, weil er sich solche Mühe damit gegeben hatte und sicher sehr enttäuscht gewesen wäre, wenn sie es nicht angenommen hätten, sondern auch, weil ihnen irgendwann klar geworden war, wie weit auch 10 Kilometer in den Schutzanzügen sein konnten.
Das hatte erstaunlich lange gedauert, weil die Besatzung der Humanity noch kein rechtes Gefühl dafür entwickelt hatte, wie weit Entfernungen auf einem Planeten sein konnten.
Sie hatten die Entscheidung bisher nicht bereut, und als sie beim Absteigen bis zu den Knöcheln einsanken, fühlten sie sich gleich noch einmal darin bestätigt.
„Immerhin hat der Schnee einen Vorteil“, sagte Piedra. „Überleg mal, wir wären komplett ratlos, wenn das hier Savanne wäre, oder Urwald, oder sowas.“
„Der Vorteil hält, bis es das nächste Mal schneit, oder ein Sturm aufkommt“, antwortete Jole.
„Naja…“ Piedra nickt widerwillig. „Aber immerhin. Wie haben die Leute auf der Erde denn jemals jemanden gefunden, wo kein Schnee lag?“
„Hunde, zum Beispiel“, sagte Jole.
„Nee, ich mein andere Menschen.“
„Die Hunde haben suchen geholfen!“
„Wie?“, fragte Piedra.
„Die konnten die anderen Leute riechen. Oder genauer, die konnten den Fährten folgen wegen der Buttersäure.“
„Aus den Füßen?“
„Genau.“
„Aber die Leute hatten doch Schuhe! Oder meinst du jetzt Steinzeit?“
„Die Buttersäure kommt durch die Schuhe.“
Jole gab sich Mühe, nicht zu lachen, und nicht zu herablassend zu klingen.
„Aber doch nur ganz wenig!“, wandte Piedra ein.
„Ja, aber das reicht.“
„Aber das riecht doch niemand.“
„Doch, Hunde.“
„Du verhummst mich doch.“
„Nein, das war so. Kannst du nachlesen, wenn wir zurück sind. Oder wenn wir Nimues Siedlung gefunden haben.“
„Mach ich auch, ich glaub dir das nicht.“
„Wir haben ja ohnehin keine Hunde“, sagte Jole.
„Schade eigentlich, die sehen sehr niedlich aus. Aber auch unheimlich.“
Jole lächelte.
„Ja, so kams mir auch immer vor.“
„Diese Zähne.“
„Oh Gott ja!“
„Und Leute hatten die zu Hause!“, sagte Piedra aufgebracht. „In ihren Kabinen!“
„Und manchmal haben die Hunde sie dann angefallen und gefressen.“
„ECHT?“
„M-hm.“
Jole nickte.
„Das hätt ich nicht ausgehalten, mit so einem Vieh in der Kabine zu schlafen, wenn ich das weiß. Die Leute müssen doch wahnsinnig gewesen sein.“
„Naja. Wenn man überlegt, warum wir hier sind …“
„Ja, ich habs auch gerade gemerkt.“
******************************
15. Juni 2056
„Ich sage doch, ich muss mit der Präsidentin sprechen.“
„Ja, Sir, das sagten Sie, aber Präsidentin Sima -“
„Sagen Sie ihr, wer ich bin, und dass es ein dringender Notfall ist.“
„Sie hat gesagt, sie will nicht-“
„Sie wissen, wer ich bin, oder?“
Rodney fühlte sich schrecklich dabei, so etwas zu sagen. Er hasste Leute, die so etwas sagten.
„Eigentlich nicht genau, wenn ich aufrichtig bin, Sir. Sie sind ein … Astronom?“
„Astrophysiker.“
„Sehen Sie, Sir. Ich kenne nicht mal richtig den Unterschied. Da wäre es vermessen, zu behaupten, ich wüsste, wer Sie sind, nicht wahr?“
„Ja meine …“, murmelte Rodney. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht, sah seinem Gegenüber in die Augen und versuchte es noch einmal.
„Sie wissen, wie ich heiße. Sie wissen, dass ich hier regelmäßig ein und aus gehe, und dass die Präsidentin mich gerade letzte Woche erst empfangen hat. Ich war bei einer Besprechung im Krisenraum dabei. Ich habe alle … Sicherheitsfreigaben, oder wie die heißen. Das wissen Sie doch alles.“
„Ja, ich weiß.“
„Dann denken Sie doch bitte auf dieser Basis noch einmal darüber nach, ob Sie nicht vielleicht doch zumindest mal fragen wollen, ob die Präsidentin mich empfangen will, wenn ich hier stehe, und Ihnen beim Grab meiner Mutter oder was Sie halt auch immer für heilig genug halten, um mir zu glauben, dass ich nicht einen Meineid darauf leisten würde, schwöre, dass es ein dringender Notfall ist.“
Der Mann wiegte den Kopf seitlich.
„Ich könnte das tun. Aber die Präsidentin schläft zurzeit sowieso zu wenig, und wenn ich sie jetzt wecke für etwas, das auch noch vier Stunden warten könnte, bis sie von selbst aufwacht, dann schade ich damit nicht nur ihr, sondern uns allen, weil sie morgen wieder große Entscheidungen zu treffen hat, und ich weiß zumindest genug über Astrophysik, um mich zu fragen, was für einen Notfall ein Astrophysiker beschreiben könnte, der keine vier Stunden Zeit hat.“

 

Lesegruppenfragen

  1. Hättet ihr auch Jole und Piedra geschickt? Warum, warum nicht, wen sonst, und warum? Ja schwere Frage. Aber ihr sollt euch ja auch nicht unterfordert fühlen.
  2. Was haltet ihr denn so von Waffen?
  3. Wusstet ihr das mit den Hunden und der Buttersäure? Stimmt das überhaupt? Ich hab das mal so gelernt.
  4. Was ist euer liebstes nonbinäres Pronomen?
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