What Rough Beast, Zug 1


Das hat doch alles schon mal prima geklappt. Vielen Dank an die Mitspielenden, und weiterhin viel Spaß an die Lesenenden! Und umgekehrt natürlich auch.

Hinweis: Hier seht ihr jetzt nicht mehr nur das Werk der Spielenden. Das Kapitel jeder Figur beginnt mit meinem Text, erkennbar unter anderem am kursiven Schriftstil, und wechselt dann je nach Verlauf ein paar Mal hin und her. Sollte etwas unklar sein, fragt gerne nach.

Melanie

Melanie hat ihren Apfelsaft schon ausgetrunken und Katja und Andrea sind schon aufgebrochen, um im Park zu grillen – das Wetter ist schön, aber nicht so schön, dass alle das machen, das wollten sie ausnutzen –, aber sie liest noch einen halbwegs interessanten, wenn auch schmerzhaften ein bisschen cringy geschrieben Erfahrungsbericht über Seenotrettung im Mittelmeer, als jemand an der Tür klopft.
Es ist ein ungewöhnliches Klopfen; ein besorgniserregendes Klopfen. Es ist nicht das lockere Klopfen einer mitbewohnenden Person, die ihren Schlüssel vergessen hat, oder einer ihrer Freundinnen, und auch nicht das eilige, geschäftige Klopfen von jemandem, der etwas zu verkaufen hat, ob nun ein Zeitschriftenabo (Machen Leute das noch? Melanie hat früher öfter davon gehört, kann sich aber nicht erinnern, selbst mal von so jemandem behelligt worden zu sein, schon gar nicht in den letzten Jahren.) oder vielleicht auch eine Religion (Die Zeugen Jehovas oder jedenfalls jemanden, der mit ihr über die Bibel reden wollte, hatte sie schon hin und wieder.).
Es ist ein schweres, formelles, dreimaliges Klopfen, wie sie es von einem Gerichtsvollzieher oder einer Polizistin erwarten würde.

Sie wundert sich selbst über ihr plötzliches Herzklopfen und die Geschichten, die ihr ganz spontan einfallen und die vom bösen Wolf über Entführer bis zur Gestapo reichen, lacht sich dann aber selber aus und macht extra entschlossen und schwungvoll die schwere alte Eichentür des abgeliebten Bauernhauses auf.

Auf der anderen Seite der Tür steht ein Mann in einem dunkelbraunen Anzug, kaum höher als Melanie selbst, aber untersetzt gebaut und gefühlt doppelt so breit, ohne wirklich dick zu sein. Seine wässrigblauen Augen mit sichtbaren, wenn auch noch nicht extrem auffälligen Tränensäcken, seine Halbglatze, die nur noch von einem in Ansätzen ergrauenden Haarkranz eingerahmt wird, und sein insgesamt irgendwie müder Gesichtsausdruck, lassen ihn zunächst eher älter erscheinen, aber nachdem Melanie genauer hingeschaut hat, schätzt sie ihn vielleicht sogar ein paar Jahre jünger als sich selbst.
„Guten Abend“, sagt er, und zieht einen Notizzettel aus der Brusttasche seines weißen Hemdes, das wie der Anzug auch so aussieht, als könnte es einmal teuer gewesen sein, aber sicherlich eher vor zehn Jahren als vor fünf. In der Bewegung kann Melanie sehen, dass zwei Knöpfe am rechten Ärmel seines Jacketts gesprungen und zur Hälfte abgeplatzt sind.
„Ich suche Frau Berta Wiesengrund. Wohnt die in diesem Haus?“ Er spricht leise, in höflichem Tonfall, mit einem nicht sehr starken, aber hörbaren russischen Akzent.

Jetzt kommt ihr ursprüngliches schlechtes Gefühl wieder deutlich durch. Sie macht einen halben Schritt zurück und zieht die weit offene Tür ein bisschen zu sich.
„Worum geht es denn?“

Ohne dass Melanie eine bedrohliche oder überhaupt irgendeine Bewegung des Mannes wahrgenommen hätte, fällt ihr auf, dass einer seiner Füße der Tür im Weg steht, sodass sie sie nicht ganz schließen kann. Als sie von seinem dunkelbraunen und sichtbar abgetragenen, wenn auch gut gepflegten rahmengenähten Oxford-Schuhen wieder in sein Gesicht aufschaut, sieht sie auch dort keine Bedrohung, nur freundliche Müdigkeit.
„Ich muss mit ihr sprechen“, sagt er. „Leider steht es mir nicht frei, den Anlass preiszugeben, aber ich versichere Ihnen, dass Sie uns allen einen Gefallen tun, wenn Sie mich dabei unterstützen. Können Sie mir sagen, wie ich sie erreiche?“
Seine Stimme ist immer noch leise und freundlich, seine Haltung ist entspannt, die Hände hängen locker herab, und nichts an ihm rechtfertigt direkt die Anspannung, die Melanie empfindet, außer eben der Gesamtsituation als solcher.

Melanie nimmt ihm die Aufrichtigkeit seiner Aussage ab, bleibt aber nach wie vor sehr misstrauisch – aber auch ein bisschen neugierig.
Sie entscheidet sich für ein freundlich vorgebrachtes: „Frau Wiesengrund ist nicht hier. Wenn Sie mir kurz Ihre Kontaktdaten geben, kann ich versuchen, sie zu erreichen, dann kann sie sich zeitnah bei Ihnen melden. Ein Stichwort, worum es geht, würde sie aber sicher zusätzlich motivieren…“

Der Mann sieht Melanie nachdenklich an, der Blickkontakt dauert lange genug, um angenehm intensiv zu werden, aber bevor es lächerlich wird, senkt er seinen Blick, schiebt das Kinn ein Stück vor und zuckt die Schultern.
„Sagen Sie Ihr bitte, ich habe eine Nachricht von Habte.“
Er zieht eine Visitenkarte aus der Brusttasche auf der anderen Seite seines Jacketts und reicht sie ihr. Es ist eine relativ dicke Visitenkarte aus leicht beigem Naturkarton, aber ohne sonstigen Spielkram, auf der in schlichter schwarzer Schrift eingeprägt steht:
Spiridon Petuchow
0162 46318796
Auch die Visitenkarte macht den Eindruck von hohem Wert, aber eine Ecke ist abgeknickt, und der Druck ist an ein paar Stellen sichtbar abgerieben.
„Und sagen Sie ihr bitte auch, dass Sie heute noch anrufen sollte, bis -“ Er streckt den linken Arm aus und schiebt damit eine Edelstahlarmbanduhr mit schwarzer Lünette und schwarzem Zifferblatt aus dem Ärmel, auf die er einige Sekunden nachdenklich schaut. „Sagen wir 17 Uhr.“ Er macht eine kurze Pause, in der er Melanie mit einem angedeuteten Schulterzucken bedauernd anlächelt wie eine Automechanikerin, die einem Kunden erklärt, dass das Ersatzteil nun mal leider so viel kostet und sie deshalb am Preis wirklich nichts machen kann. „Sonst muss ich wiederkommen.“
Er tippt sich mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand an einen imaginären Hut, dreht sich um und geht.
„Haben Sie einen schönen Tag!“, sagt er in seinem leichten russischen Akzent, und klingt dabei wirklich so, als würde er ihr das wünschen.

Melanie hat ein bisschen Gänsehaut, und meint das „Danke, Sie auch!“, das sie ihm hinterherruft, eh sie die Tür schnell schließt, dabei durchaus ernst.
Sie greift in ihre Hosentasche, flucht, und beginnt hektisch ihr Mobiltelefon zu suchen. Nach unerfreulich langer Zeit findet sie es auf dem Küchentisch unter der Zeitung und ruft Berta an. Und legt sofort wieder auf. Nicht, dass man den Anruf irgendwie verfolgen und Berta dadurch orten kann? Nein, Blödsinn, so funktioniert das nicht. Sie versucht es nochmal. Natürlich die mailbox, das war ja so klar.
„Berta, ich bins, Melanie. Du, hier war grade so ein Typ, der gesagt hat, Du sollst ihn anrufen. Und, äh, also, es wirkte irgendwie wichtig. Und ein bisschen spooky. So mit so einem russischen Akzent. Wie ein Geheimagent oder so.“, sie lacht ein bisschen übertrieben, „also, nee, das klingt jetzt falsch, aber er meinte jedenfalls, es sei wirklich wirklich wichtig, vor fünf am besten, und er müsse sonst wiederkommen.“ Die Gänsehaut ist wieder da. „Also, ich geb dir schon mal die Nummer, aber du kannst ja auch, also, wenn du das abhörst, meld dich doch mal, dann erzähl ich dir.“ Sie liest den Namen und die Nummer ab und legt auf, kann aber noch eine ganze Weile nicht aufhören, unruhig im Flur hin- du herzulaufen. Sie sieht auch ein paar Mal aus dem Fenster, aber der Besucher scheint tatsächlich einfach wieder gegangen zu sein.

Katharina

Das Wetter draußen ist angenehm, zwar warm und sonnig, aber durch ein paar Wolken und eine kühle Brise auch nicht zu heiß und grell. So macht ihr schon der Weg in den Park gute Laune, und einmal dort angekommen, sitzt es sich äußerst angenehm, und die Zeit vergeht schnell, zumal auch der Chat mit der Freundin angenehm läuft, bis …
Katharina zuckt erschrocken zusammen und lässt das Mobiltelefon fallen, als plötzlich eine kalte, feuchte Nase gegen ihren Handrücken drückt. Ein scheckiger Mischling, in dem sie mit etwas Fantasie Spuren von Labrador und Rottweiler zu erkennen glaubt, grinst und sabbert mit hängenden Lefzen zu ihr auf. Für einen Moment ist sie verblüfft von seinen auffälligen verschiedenfarbigen Augen, eines bernsteinfarben, das andere von einem kräftigen Braun mit sonderbaren metallischen Sprenkeln darin, und starrt das Tier an. Es blickt ruhig und freundlich zurück.
Katharina bemerkt jetzt, dass der Hund einen etwas vernachlässigten Eindruck macht. Sein mittellanges Fell ist schmutzig und verfilzt, hier und da hängen sogar kleine Zweige darin fest, und sie kann seine Rippen sich abzeichnen sehen und findet, soweit sie das als Laiin beurteilen kann, dass er einen zu mageren Eindruck macht. Außerdem hat er Mundgeruch, sehr unangenehm, wie faulige Eier …
Dann fällt ihr das Telefon ein. Besorgt hebt sie es auf und stellt fest, dass es tatsächlich einen Sprung abbekommen hat, schräg über das obere Viertel des Displays. Scheint aber immerhin sonst noch zu funktionieren.
Der Hund legt langsam und beinahe vorsichtig eine Pfote auf ihr Knie und hechelt zu ihr auf. Im Filz seines ungepflegten Fells kann sie ein metallenes Halsband erahnen.

Das ist ihr etwas zu viel Körperkontakt, und der Mundgeruch des Hundes ist aus so kurzer Distanz überwältigend. Katharina pflückt seine Pfote behutsam und ein wenig angewidert von ihrem Knie, sieht ihn an und sagt laut und deutlich „Sitz!“

Das Tier schaut Katharina mit schiefgelegtem Kopf an, setzt sich aber schließlich tatsächlich, und gibt ein kehliges „Wuff!“ von sich, nicht bedrohlich, nur so, wie Hunde das halt machen, wenn sie sonst nichts zu sagen haben.

„Brav“, lobt Katharina. Sie mustert den Hund. Ob der irgendwo entlaufen ist? Oder sogar angekettet war? Und diese Augen… Wenn ihr Handy wirklich noch funktioniert, könnte sie Ursula ein Foto schicken, und sie könnten sich gemeinsam wundern. Katharina entsperrt ihr Handy, klickt auf das Kamerasymbol und nimmt den Hund in den Fokus.

Frida

Fridas Post enthält nichts Aufregendes, nur die üblichen Briefe von Leuten, die ihre verorenen Haustiere suchen, Rechnungen, Briefe von Leuten, die verlorene Haustiere gefunden haben, Mahnungen, Briefe von Leuten, die unfassbar toll finden, wie lieb sich die Leute im Tierheim um die armen Tiere kümmern, Werbung, und Briefe von Leuten, die unfassbar wütend sind, wie schlecht die Leute im Tierheim sich um die armen Tiere kümmern.
Und eine Urlaubskarte von einer Kollegin, die gerade in Uganda unterwegs ist und sich beim Schreiben offenbar nicht viel Gedanken um Rassismus macht, und die anderen Problematiken, die sie dabei anspricht.
Irgendwann, als sie von ihrem Schreibtisch aufschaut, sieht sie da plötzlich ein Mädchen stehen, vielleicht 14 oder so, mit etwas zu großen Jeans und einem gelben T-Shirt, auf dem ein T-Rex mit Astronautenhelm und Jetpack auf einen Asteroiden zurast; darunter steht in Comic-Schrift: „REVENGE!“
Sie hat kurze, ein bisschen unregelmäßig geschnittene dunkelblonde Haare, die Frida unangenehm an den Archetyp des Manic Pixie Dream Girls erinnern, aber das eigentliche auffällige Merkmal an ihr sind ihre verschiedenfarbigen Augen: Eines ist hellblau, das andere braun, und weil sie ziemlich nah vor Fridas Schreibtisch steht – merkwürdig, wie sie so nah dran gekommen ist, ohne dass Frida sie bemerkt hat, die Postkarte muss sie wirklich abgelenkt haben –, kann Frida in der braunen Iris noch kleine silberne und goldene Sprenkel erkennen, die einen sonderbaren Metallic-Effekt erzeugen.
„Hey“, sagt sie, und guckt ein bisschen schüchtern im Raum herum, Fridas Blick ausweichend, „Ich … weiß nicht, ob ich hier richtig bin, aber ich hab gehört, hier kann man heute Tiere mitn… also, ich mein, wenn man ein Haustier sucht, dann ist heute hier … Dann kann man sich … Also, bin ich hier richtig?“

Frida wacht aus ihrer Versenkung auf, fängt sich schnell und sagt leutselig aber in einem leichten mürrisch-strengen Unterton: „Ja, liebe junge Dame, heute ist tatsächlich unser Besuchstag für Personen, die daran interessiert sind, ein Tier aus unserem Heim aufzunehmen. Allerdings, wie wir es auf unserer Homepage auch deutlich kommunizieren, am Nachmittag, von 14:00 – 17:30 Uhr. Jetzt ist es 09:30 Uhr, also für die Kleinkarierten unter uns sogenannter Vormittag, aber in Eurer Jungen-Leute Welt zählen solche Details vielleicht noch nicht so viel, das verstehe ich ja schon auch.“ Das Mädchen reagiert nicht wie erhofft auf Fridas launige Worte, sie senkt den Blick noch etwas tiefer und sich noch ein wenig mehr in sich selbst. Oh je, Du bist aber keine Rheinländerin oder hast eine soziale Störung oder beides, ach ich weiß nicht, oder ich war mal wieder taktlos diskutiert Frida ihre Kundinnenansprache in Gedanken mit dem Mädchen und sich selbst und macht einen neuen Anlauf:
„Aber wo Du schon einmal hier bist, können wir uns Deines Anliegens jetzt auch annehmen, ich kann das einschieben, nimm doch gerne Platz, darf ich Dir ein Wasser oder einen Tee anbieten?“. „Äh, nein, ich bin gut.“, sagt das Mädchen und setzt sich auf den Stuhl gegenüber Fridas Schreibtisch. Im Hinsetzen fällt ihr Blick auf Pinguin, der immer noch auf Fridas Schulter sitzt und zu Fridas Erleichterung noch keine obszönen Inhalte von sich gegeben hat, sowie Ferdi, der wie so häufig neben Frida liegt und gutgelaunt an die Decke glotzt. Ihre verschiedenfarbigen Augen flackern leicht irritiert und Frida fragt sich, ob das linke Auge stärker zuckt als das rechte oder ob es nur am Aussehen der Augen liegt, dass dieser Eindruck entsteht:
„Also, liebe junge Dame, sagst Du mir noch schnell, wie Du heißt, und ob es ok ist, dass ich Dich duze“, dann erzähle ich Dir, wie das hier so abläuft, mit der Adoption, wie wir das hier nennen, eines unserer Tiere“.
„Sie können mich Golda nennen“, antwortet das Mädchen, „und duzen ist ok.“.
Zum Glück denkt Frida und fragt sich zum tausendsten Mal in ihrem Leben, ob sie nicht viel zu tumb und dreist ist.
„Also, Golda,“, beginnt Frida den Vortrag, den sie schon so oft gehalten hat, „im Grundsatz sind wir natürlich sehr froh, über jedes Tier, dass wir an verantwortungsbewusste, liebevolle Personen abgeben können. Aber es ist uns hierbei sehr wichtig, uns zu versichern, dass es sich bei den Menschen, denen wir unsere Schützlinge anvertrauen, eben auch um solche handelt. Wir überprüfen daher sorgfältig die Eignung unserer Interessentinnen und Interessenten. Wir möchten wissen, in was für einer räumlichen Umgebung das Tier leben wird, das sichergestellt wird, dass auch für einen längerfristigen Zeitraum jemand die Kapazitäten hat, sich zu kümmern. In Deinem Fall würden wir beispielweise auch mit Deinen Eltern sprechen, sind sie einverstanden, was ist ihre Haltung zu deinem Tierwunsch etc.“.
„Eltern?“, erwidert Golda überrascht, fast als sei ihr das Konzept gänzlich fremd.
„Ja, Eltern, diese Leute, bei denen man in Deinem Alter, wenn ich Dich mit 14 altersmäßig ungefähr richtig eingeschätzt habe, normalerweise wohnt, und die in der Regel so Formulare unterschreiben müssen, wenn Du relevante Entscheidungen für Dein Leben triffst, zum Beispiel ein Tier aus dem Tierheim aufzunehmen.“
„Also, ähm, ich habe eigentlich keine Eltern und ich wohne in einer WG,“, sagt das Mädchen immer noch überrascht, „aber ich würde mich gut um ein Tier kümmern. Ich möchte einen Hund haben.“
Möchte-Schmöchte denkt Frida innerlich augenrollend, aber sie merkt, dass sie es Golda zutraut und muss unwillkürlich an Fritz denken, die depressive, übergewichtige Bulldogge, der es hier im Heim gar nicht gut geht, weil sie viel mehr Zuwendung, insbesondere Streicheleinheiten braucht, als sie ihr hier im Heim geben können. Fritz hat zu seinen Depressionen vor lauter Einsamkeit auch noch kreisrunden Haarausfall bekommen und er sieht zunehmend wie ein Miniatur-Jabba the Hood und nicht mehr wie ein Hund aus.
Vielleicht können wir Dich Golda andrehen, wenn wir es ein bisschen geschickt anstellen, denkt Frida bei sich, setzt ihr freundlichestes Lächeln auf und sagt: „Also, ganz einfach wird das nicht, Dir ein Tier zu vermitteln, wenn Du keine Eltern hast, die die nötigen Unterschriften leisten können. Aber, vielleicht findet sich da eine Lösung. Wenn Du möchtest, komm mal mit, dann stelle ich Dir jetzt jemanden vor.“

Desmond

Desmond sucht sich also die Richtung aus, die ihm am sympathischsten erscheint, folgt ihr und seinen Gefühlen an jeder neuen Kreuzung und Gabelung, bis er eine Brücke über einen ganz ordentlich breiten Fluss erreicht, die in der Dämmerung einen wirklich hübschen Ausblick bietet. Sogar ein Flusskahn voll mit Kohle pflügt sich unter ihm durchs Wasser, mit einem kleinen, aber sehr charakterstarken gebrauchten Auto auf einer freien Fläche am Heck, mit dem die Kapitänin sich wahrscheinlich fortbewegt, während ihr Schiff vor Anker liegt. Leider kann Desmond das Fahrzeug überhaupt nicht einordnen und nicht einmal den Hersteller erkennen, weil er überhaupt nichts von Autos versteht, und von europäischen gleich doppelt.
Jäh wird er aus seiner verträumt-desinteressierten Betrachtung des für ihn angenehm nichtssagenden und völlig gleichgültigen kleinen Fahrzeugs gerissen, als eine dunkle Frauenstimme neben ihm sagt:
„Das… Das gibts doch nicht! Sind Sie etwa Desmond Janeway? ‚Quadragesima Complex – Jetzt gehts im Siebengestirn erst richtig los!‘? Das ist doch von Ihnen, oder?“

Er geht weiter, als hätte er nichts gehört.

„Entschuldigung? Sie sind doch Desmond Janeway, oder nicht?“
Desmond kann der nicht nachlassenden Nähe ihrer Stimme und dem Geräusch ihrer Schuhe auf dem Pflaster entnehmen, dass sie ihm folgt
„Ich würd Sie nämlich total gerne was fragen, nur ganz kurz, haben Sie vielleicht einen kurzen Moment Zeit, es geht auch ganz ganz schnell, ich versprechs Ihnen!“

Janeway bleibt stehen und wendet sich resigniert um.
„Sure, wie kann ich Ihnen helfen?“

Die Frau ist überraschend groß, vielleicht 1,90m, und trägt ein merkwürdiges Outfit, das nur aus Jeans zu bestehen scheint. Jeanshose, Jeansjacke, Jeanshemd, sogar der Schaft ihrer Sneaker besteht aus Jeansstoff. Sie trägt eine große Handtasche über der Schulter, die natürlich auch aus Jeans besteht (die Tasche; die Zusammensetzung der Schulter unter der Jeansjacke und dem Jeanshemd kann Jeansdesmond nicht jeanssehen), und in der Hand einen durchsichtigen Schnellhefter.
„Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht schnell …“ Sie versucht umständlich in die Tasche zu greifen, schüttelt aber schließlich unzufrieden den Kopf und hält Desmond den Schnellhefter hin. „Könnten Sie vielleicht kurz …?“
Als er ihn ihr abgenommen hat, grinst sie triumphierend, nickt ihm zu und sagt: „Zugestellt. Schönen Abend noch, du arroganter Wichser!“
Sie wendet sich ab und geht.

Janeway steht verdutzt und überrumpelt da und schaut der Jeansdame hinterher. Schließlich besinnt er sich, dreht sich um und setzt seine Wanderung am Wasser fort. Obwohl er es bewusst unterlassen hat, einen Blick auf den Schnellhefter zu werfen, so viel Trotz konnte er noch aufbringen, ist seine ganze Konzentration vom Gewicht des glatten Gegenstands in seiner Hand gefesselt, als er ihn beim Gehen beiläufig hin und her schwingt, als wäre er kein Fremdkörper.
In den Fluss damit oder herausfinden, was es damit auf sich hat? Auch nach fünf Minuten ist ihm nicht eingefallen, worum es sich handeln könnte. In den Fluss oder sich damit befassen. Oder einen kurzen Blick und dann in den Fluss. Ja.
Er bleibt abrupt stehen und dreht sich zum Fluss. Eine gute Entfernung, um das Dokument hineinfallen zu lassen. Er schlägt den Schnellhefter auf.

UNITED STATES DISTRICT COURT
NORTHERN DISTRICT OF ILLINOIS

Civil Action No 85600029177-c
(NO JURY TRIAL DEMANDED)

JOSEPH CHAKOTAY,
Plaintiff
DESMOND JANEWAY,
Defendant.

Desmond ist mit den Feinheiten nicht vertraut genug, um alles bis ins Letzte zu verstehen, aber den Text unter COMPLAINT FOR MANDAMUS deutet er so, dass dieser Herr, dessen Namen er nur vage als diese putzige Koinzidenz in Erinnerung hat, die manchmal ein paar Plätze hinter und manchmal ein paar Plätze vor seinem eigenen Namen in den Verkaufscharts von Amazon auftaucht, gerne von ihm neben einer Unterlassungserklärung auch gerne Strafschaden haben möchte für das Plagiat seines Romans „Wicked Darkness In The Pleiad’s Hidden Core“, das Desmond angeblich nur im Titel und einigen wenigen Details oberflächlich verändert als sein eigenes Werk vermarktet hat. Chakotays Anwalt Robert B. Hudds schwebt dabei eine runde Summe von $500,000 vor, aber er verlangt Offenlegung der Konten und Steuererklärungen des Beklagten, um gegebenenfalls einen höheren Betrag geltend machen zu können.

Janeway reibt seinen Nasenrücken zwischen Zeigefinger und Daumen. Dann steht er eine Weile mit hängenden Schultern da. Die größte Erniedrigung ist nicht die aus der Luft gegriffene Plagiatsklage, sondern die Absurdität der Situation, dass ein bedeutungs- und erfolgloser Autor von einem anderen bedeutungs- und erfolglosen Autor auf 500.000 Dollar verklagt wird, eine Summe, die keiner von beiden jemals in seinem Leben zu Gesicht bekommen wird.
Der Plan, den Schrieb mit gleichgültiger Miene in den Fluss zu werfen, ist praktisch vergessen. Janeway weiß, dass eine solche Klage, auch wenn sie wie hier jeder Berechtigung entbehrt, nicht ohne Aussicht auf Erfolg ist, weil im Sciencefictiongenre für den Augenschein von Nichteingeweihten eine weitgehend gleichbleibende Gruppe von Themen bloß variiert wird. Wenn bei Flaubert eine Affäre vorkommt und später auch Maupassant über eine Affäre schreibt, ist es kein Plagiat, weil nur Dinge der Alltagssphäre verhandelt werden. Wenn aber zum Beispiel ein Sciencefictionautor, der Robotergeschichten schreibt, zum ersten Mal eine Roboteraffäre schildert und fünf Jahre später ein Sciencefictionautor, der erotische Utopien schreibt, erstmals mit Robotern experimentiert, kann das für einen Richter wie ein Plagiat aussehen.
Janeway nimmt einen Schluck aus seinem Flachmann, steckt die Unterlagen in sein Jackett und trottet weiter. Ihm ist längst eingefallen, wo sein Hotel ist, und jetzt, wo seine unmittelbare Zukunft mit absurden Widrigkeiten durchdeterminiert ist, wird er sie Schritt für Schritt abarbeiten. Das Hotel, der Flug nach Chicago, der Briefschlitz seines Apartments und alles, was dann kommen wird. Für eine Weile wird er die Spielfigur in einem miesen Spiel sein, das ausnahmsweise nicht er erfunden hat, sondern ein noch größerer Stümper als er selbst.

Jack

Jack hört Martins Stimme aus dem Flur
„… und hier ist noch ein Büro für unsere Entwickler, also Bildschirmarbeitsplätze, logischerweise. Das hier ist Jack, also, Jack Straßhuber. Jack, das hier ist Herr Lämmergeier, unsere Fachkraft für Arbeitsmedizin, mit mir auf Begehung. Ja, das ist hier halt alles wie in den anderen Büros, deshalb könnten wir eigentlich-“
„Wie geht es Ihnen denn, Herr Straßhuber?“, fragt der Mann, den Martin angeschleppt hat.
Er ist ein unauffälliger Mann Anfang 50, schlank, mit einem kurz gestutzten Vollbart, einer etwas wirren schwarzgrauen Lockenfrisur, einem schlabbrigen Pullover und einer dunkelbeigen Cordhose. Unter dem Arm hat er eine lederne Aktenmappe, die so abgenutzt ist, dass man an den Rändern nicht mal mehr aufgerissene Nähte sieht, sondern nur noch aufgelöste bröckelnde Lederreste, unter denen etwas wie Pappe oder spröder Kunststoff vorsteht.
Sehr auffällig sind allerdings die Augen des Mannes, denn sie sind verschiedenfarbig. Eines ist grasgrün, das andere dunkelbraun mit metallisch schimmernden goldenen und silbernen Sprenkel darin. Er steht gerade so unter einer Rasterleuchte, dass die Sprenkel sehr deutlich zur Geltung kommen.
Und Jack findet auch ungewöhnlich, wie interessiert der Typ ihn anschaut, während er auf seine Antwort wartet. Aber vielleicht nimmt er ja einfach nur seine Aufgabe sehr ernst.

Für Smalltalk hat Jack gerade so gar keinen Nerv. Irgendwas gibt ihm auch das Gefühl, dass dieser Herr Lämmergeier ihn nicht aus reiner Höflichkeit nach seinem Befinden gefragt hat. Aber seit wann interessieren sich die von der Arbeitsmedizin für Bürokräfte wie ihn? Um ihn schnell wieder los zu werden antwortet er: „Sehr gut, danke der Nachfrage. Bloß ein bisschen viel zu tun im Moment. Ich muss dann auch wieder…“

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