What Rough Beast, Zug 0


Und schon geht es los mit unserem apokalyptischen Mail-Rollenspiel „What Rough Beast“. Ich veröffentliche heute die Beschreibungen der Charaktere, die die Teilnehmenden mir eingereicht haben, sowie den Beginn des ersten Tages. Alles, was ihr hier seht, ist also nicht von mir, sondern von den Mitspielenden. Beim nächsten Mal gibts dann in Zug 1 mein Antwort und die Reaktion der Spielendencharaktere. Sollte jemanden unter euch beim Lesen die Lust packen, auch mitzumachen, meldet euch gerne, ein paar Leute können wir noch aufnehmen, denke ich.

Bildergebnis für what rough beast

So oder so empfehle ich euch, mal reinzulesen, denn das Team hat ganz hervorragende und sehr unterhaltsame Beschreibungen geliefert, wenn ihr mich fragt. Viel Spaß!

Charaktere
1. Desmond
Ich bin Desmond Janeway, ein weitgehend erfolgloser amerikanischer Sciencefictionautor.
Wenn wir in Deutschland spielen, bin ich auf Lesetour in Deutschland.
Ich kann auch schlechtes Schuldeutsch, -französisch und -spanisch.
Ich bin 58, depressiv und führe immer einen Flachmann mit mir, aus dem ich gelegentlich einen Schluck nehme. Niemand weiß, dass nur Wasser drin ist.
Ich hasse es, dass mein Name ein Star-Trek-Name ist, aber habe vor vierzig Jahren meine einzigen Storys, von denen ich was halte, unter diesem Namen veröffentlicht.
Deshalb verwende ich dem Namen immer noch, auch wenn ich eigentlich immer unter wechselnden Pseudonymen veröffentliche.
Ich bin mittelgroß, mitteldick, mit ergrauenden schwarzen Haaren.

2. Frida
Frida ist 36 Jahre alt, 172 cm groß und dünn. Sie hat kurze braune Haare und blaue Augen. Ihre beiden oberen Vorderzähne sind ein bisschen xförmig-schief, was ihr einen kecken Gesichtsausdruck verleiht. Sie fände sich selber hübsch, wenn sie nicht leider mit einer ernsten Form von Neurodermitis geplagt wäre, wodurch Ihre Haut trocken, teilweise vernarbt und je nach aktuellen Zustand, gerötet und verschorft wäre, wofür Frida sich und ihr Aussehen hasst. Je nach Tagesform mal mehr mal weniger.
Sie arbeitet im Städtischen Tierheim Köln Dellbrück. Nach dem Abitur hatte sie Mathematik und Geschichte auf Lehramt studiert. Bis sie anfing, Mathematik zu studieren, hatte sie sich selber für überdurchschnittlich clever gehalten. Danach nicht mehr. Außerdem stellte sie in ihrem Studium schnell fest, dass sie mit Menschen und insbesondere jungen Menschen so wenig wie möglich zu tun haben will. Daher fing sie nach ihrem Abschluss an, in einem Versicherungsunternehmen zu arbeiten. Dort hatte sie ein eigenes Büro und tatsächlich wenig mit Menschen zu tun. Andererseits war das alles so dröge und unkreativ, dass Frida mit den Jahren schwer depressiv und ihre Neurodermitis immer schlimmer wurde. Sie kündigte, war eine Zeitlang arbeitslos und fing an, ehrenamtlich im Dellbrücker Tierheim zu arbeiten. Da hat sie gemerkt, dass sie mit Tieren gut klarkommt und wenn die um sie herum sind, einigermaßen ruhig und zufrieden ist. Sie kann sogar ihre Kolleginnen einigermaßen leiden. Irgendwann stellte das Tierheim sie ein und jetzt geht es ihr, wie sie selber sagen würde, „im Rahmen des Möglichen“, ganz gut.
Zum Berichtszeitpunkt gibt es im Tierheim 267 Tiere, natürlich ändert sich das ständig: Katzen und Hunde, einige Vögel, Wellensittiche, einen Papagei, drei alte Hasen, die nicht mehr vermittelbar sind und ein Wasserschwein, Ferdi. Frida liebt sie fast alle, auch die depressivste, dickste Katze oder auch die arroganten Prinzessinnen unter ihnen, die alten Hunde mit kaum noch Fell, die beim besten Willen nicht mehr niedlich zu finden sind und auch die Kaninchen, selbst wenn bei denen, außer ihrer unendlichen Langweiligkeit und Charismafreiheit, eigentlich keine Eigenschaften und Fähigkeiten zu bemerken sind. Fridas Lieblingstierheimbewohner ist „Pinguin“, der sprechende Rotschwanz-Ara. Sie haben ihn vor einigen Jahren, als seine alte Besitzerin, Frau Junkersdorf, mit 90 Jahren gestorben war, ins Tierheim übernommen. Pinguin kann sprechen und hat das schönste satt-dunkelrote Gefieder, was man sich überhaupt vorstellen kann. Leider benimmt er sich wie ein Tourettepatient und nutzt sein herausragendes Sprachtalent hauptsächlich, um unanständige Dinge zu sagen. „Wir müssen Deutschland nach vorne ficken, ihr Pimmelnasen“ kräht er verdutzte Besuchende gerne an, die in der Regel verschreckt reagieren, während Frida erleichtert ist, dass er nicht die noch wesentlich versauteren Bestandteile seines Wortschatzes zum Besten gegeben hat. Frida war immer davon ausgegangen, dass Frau Junkersdorf freche, pubertäre Enkel hatte, die sich damit vergnügt hatten, Pinguin ein unziemliches Vokabular anzutrainieren, bis ihr die Kolleginnen erzählten, dass Frau Junkersdorf weder Kinder- noch Enkelkinderglück beschert gewesen war. Aber es war Frida auch egal, warum der Vogel sprach wie er sprach, sie mochte ihn, er durfte auf ihrem Kopf sitzen und in ihren Haaren picken, und sie hoffte, dass sich nie eine Familie finden würde, die ihn mitnehmen will.
Der ungewöhnlichste von den aktuell 267 Heimbewohnern ist Ferdi das Wasserschwein. Viel spricht dafür, dass das Dellbrücker Tierheim das einzige Tierheim der Welt mit einem Wasserschwein ist. Ferdi hatte als normales Zoo-Wasserschwein-Leben im Tierpark Köln gelebt, bis er eines Tages von einer Gruppe Männer, die einen ausufernden Jungesellenabschied feierten und dachten, es wäre lustig, „Hangover“ nachzuspielen, von dort entführt wurde. Da der Bräutigam Ferdi so nett fand, gab er ihn nicht, wie eigentlich geplant, zurück, sondern behielt ihn bei sich im Garten. Ferdi wäre dort zufrieden (Wasserschweine sind nie nicht zufrieden) alt geworden, wenn es nicht drei Jahre nach dem Kidnapping zur einer konfliktreichen Scheidung der einst durch den Jungesellenabschied gefeierten Ehe gekommen wäre, im Zuge derer die wütende Ex-Ehefrau Ferdis Existenz in ihrem Garten und wie es dazu gekommen war, bei der Polizei angezeigt hätte. Ferdis unrechtmäßigem Besitzer wurden 5.000,- Euro Strafe und eine Kontaktsperre zu Ferdi auferlegt. Da das Wasserschweingehege im Kölner Tierpark zu diesem Zeitpunkt nicht mehr existierte – es hatte einer Erweiterung des Menschenaffenhauses weichen müssen – war Ferdi in Dellbrück untergekommen.
Ferdi ist der einzige von allen Bewohnern, den Frida nicht leiden kann. Sie versucht das zu verbergen, denn Ferdi ist, außer bei ihr, allseits beliebt. Wie jedes Wasserschwein ist er ein friedlicher, gutgelaunter Gesell, der sich mit allen Gotteskindern, ob Mensch ob Tier, vortrefflich versteht. Genau das findet Frida verdächtig und denkt, das, wer sich nie mit jemandem streitet und von allen gemocht wird, ein oberflächliches Arschloch sein muss. „Ferdi, ich traue Dir nicht über den Weg“, schnauzt sie ihn öfter an und kneift ihn ins Ohr, wenn sie sich sicher ist, dass gerade niemand in der Nähe ist, der das mitbekommt. Aber, auch wenn Frida Ferdi verachtet und er sadistische Gefühle in ihr auslöst, die ihr selber unheimlich sind, so kommt sie nicht umhin anzuerkennen, dass er auf die anderen Tiere so etwas wie eine therapeutische Wirkung zu haben scheint. Ab und zu lassen sie ihn ins Katzengehege und dann kommen auch die verstörtesten und schüchternsten unter den Katzen, um sich an ihn zu kuscheln. Ansonsten darf Ferdi frei im Tierheim herumlaufen und gute Stimmung verbreiten. Frida hat mal versucht, das zu unterbinden, aber gute Argumente konnte sie nicht vorbringen. Ständig kommen Familien, die Ferdi gerne bei sich aufnehmen würden, aber die Chefin und Fridas Kolleginnen finden immer Ausreden („Diese Familie ist doch zu nett und harmonisch, da hat Ferdi gar keine Aufgabe“), warum die Bewerbenden ungeeignet sind.
„Wie kann denn jemand immer nur gute Laune haben, die AfD sitzt im Bundestag, Flüchtlinge ertrinken im Mittelmeer und die Klimakatastrophe ist nicht mehr aufzuhalten. Es widert mich an.“, beschwert sie sich bei ihrem Freund über Ferdi. „Er ist ein Tier und dazu noch ein außergewöhnlich freundliches.“, antwortet der Freund. „Tier, Schmier, na und? Einerseits berufen sich die Viecher auf die moderne Verhaltensforschung und dass sie Gefühle hätten und Ich-Wahrnehmung und ich weiß nicht was noch alles und dass man sie deswegen nicht essen und nicht quälen soll. Bitteschön, aber dann sollen sie auch die Nachteile in Kauf nehmen und ein bisschen gesellschaftskritische Haltung und angemessene schlechte Laune an den Tag legen, das ist ja wohl nicht zu viel verlangt.“ Fridas Freund ahnt, dass Frida das ernst meint, aber er liebt sie wie sie ist. Frida wiederum ahnt, dass das nicht selbstverständlich ist, und ist daher froh, den Freund zu haben, auch wenn er ihr eigentlich auf den Wecker geht.

3. Jack
Jack heißt mit bürgerlichem Namen eigentlich Jakob Straßhuber, doch so nennt ihn außer seinen Eltern niemand. Und zu denen hatte er schon Jahre keinen Kontakt mehr. Jack ist 31 Jahre alt und arbeitet als Softwareentwickler in einem Medizintechnik-Konzern. Seine besondere Fähigkeit ist es, Fehler oder Schwachstellen in Softwaresystemen intuitiv zu erkennen. Doch trotz seiner Begabung ist er im Beruf nur mäßig erfolgreich, denn er ist stinkfaul und antriebslos. Seine Kollegen schätzen ihn dennoch, denn wenn sie mit einem Defect zu Jack gehen kann er ihnen sofort sagen, wo das Problem liegt. Bei seinen Vorgesetzten ist er allerdings weniger beliebt: Schon mehr als eine Deadline wurde gerissen, da Jack kurz vor dem Releasedatum noch schwerwiegende Fehler gefunden hat. Immer hält er den Betrieb auf!

Außer zu seinen Kollegen hat er zu keinen Menschen Kontakt, soweit er es vermeiden kann. Und auch die Kollegen sieht er nur während der Arbeitszeit. Sie haben ihn zwar schon öfter gefragt, ob er nach der Arbeit noch auf ein Bier in die Kneipe mitkommen will. Doch Jack hat jedes Mal abgelehnt. Seine Abende verbringt er lieber damit, Schwachstellen in Onlinesystemen zu suchen. Er sieht sich nicht als Hacker, denn von den klassischen Angriffsszenarien versteht er nichts.
Er ahnt einfach intuitiv, welche Zeichenkombinationen er in ein Suchfeld eingeben oder wie er eine URL abändern muss, um sein Ziel zu erreichen.
Vorteil schlägt er daraus keinen, er käme zum Beispiel nie auf die Idee, in einem Webshop kostenlos einzukaufen. Dabei ist es so einfach, die Preise vorübergehend auf Null zu setzen…

4. Melanie
Melanie ist Ende fünfzig und frühpensionierte Landschaftsgärtnerin. Sie ist relativ klein und drahtig und hat kurze blonde wuschelige Locken, die schon ziemlich grau sind, wenn man genau hinsieht.

Sie hat jung geheiratet, ihren Mann mit Mitte zwanzig an einen Unfall verloren, und damals zwar sehr um ihn als Person, aber nicht so sehr um ihre Zukunft als Ehefrau und potentielle Mutter getrauert, sondern sich relativ spontan mit vier Freundinnen und Freunden in einer großen, gastfreundlichen Haus-WG einquartiert.

Sie hat ihren Beruf gerne gemacht, ihn aber irgendwann wegen Rückenproblemen immer schlechter ausüben können, und sich gegen eine Versetzung ins Büro entschieden sondern vor einem halben Jahr beschlossen, sich mit ihrer überschaubaren, aber ausreichenden Rente in den Ruhestand zurückzuziehen. Sie ist gerade dabei, sich darin einzurichten und geht ihren momentanen Mitbewohner*innen im Moment ein bisschen auf die Nerven, weil sie durch übertriebenes Engagement in Haushalt und Garten einen gewissen Erwartungsdruck auf die anderen ausübt – andererseits freut man sich auch, wenn Geräte repariert und Teile des Hauses renoviert werden, die das schon seit langem nötig haben.
Melanie würde auch gerne reisen, hatte aber früher nie Zeit dazu und ist im Moment noch zu unsicher, ob und wie sehr sie sich das leisten kann.

5. Katharina
Katharina Schugat ist 68 Jahre alt und pensionierte Lehrerin für Deutsch und Latein. Ihre Eltern waren Vertriebene aus Ostpreußen, und eine gewisse preußische Disziplin ist ihr auch zu eigen, zusammen mit einem ausgesprägten Starrsinn, der im Alter keineswegs besser geworden ist. Sie ist kein übermäßig emotionaler Typ, hat aber ausgeprägte moralische Grundsätze, die sie scharf zu verteidigen versteht. Wer von ihr hier nicht allzu viele Kompromisse verlangt, lernt auch ihre umgängliche Seite kennen. Katharina ist im Rheinland aufgewachsen und hat dort den ersten Teil ihres Lebens verbracht. Die Wende fiel mit der Scheidung ihrer ersten Ehe zusammen, sodass sie aus einer Laune heraus beschloss, in Dresden einen Neuanfang zu wagen. Vom Schuldienst wurde sie vorzeitig pensioniert (aufgrund mangelnder Kompromissbereitschaft), und da Herumsitzen ihr ein Greuel ist, füllt sie ihre Tage mit umfangreicher Zeitungslektüre und ihrer Tätigkeit als Nachhilfelehrerin und Leihoma. Eigene Kinder hat sie nicht. Da sie gern und ausgiebig wandern geht, ist sie körperlich fit, nicht nur für ihr Alter. Allerdings macht ihr in letzter Zeit eine zunehmende Vergesslichkeit ein wenig Sorgen.

Plot
1. Zug 0
1.1 Melanies Morgen
Melanie schläft bei offenem Fenster und wacht vom Tageslicht auf. Sie schaut auf die Uhr, grunzt und dreht sich nochmal um, aber ihre Rückenschmerzen treiben sie eine Viertelstunde später doch aus dem Bett.
Sie schlurft in die große Küche ihrer Haus-WG und fängt an, aus dem Kühlschrank und der Obstschale alle Pflanzenteile zusammenzusammeln, die so aussehen, als würden sie den Tag nicht überleben, und wirft sie in den Entsafter. Das Ergebnis überzeugt sie farblich (graubraun) und quantitativ noch nicht, deshalb tappt sie über die Terrasse in den Garten und sammelt ein paar Äpfel vom Boden.

Das Wetter sieht komisch aus, und nicht besonders vielversprechend, aber noch ist es sehr angenehm. Sie macht ein paar halbherzige Dehnübungen in der Morgensonne, kommt sich dann aber zu sehr wie in einem Lifestylemagazin vor und geht mit ihren Äpfeln vor sich hinkichernd wieder rein.

Katja und Andrea sind inzwischen auch wach und in der Küche; die jüngeren beiden Mitbewohnis sind schon lange bei der Arbeit.
Andrea hat den vorhandenen Saft als verwaist gedeutet und statt Milch in sein Müsli gekippt. Melanie ist leicht befremdet, aber nicht wirklich unzufrieden mit dieser Entwicklung. Sie schneidet kurz die guten Teile der Äpfel in den Entsafter und setzt sich mit ihrem frischen Apfelsaft zu den beiden und angelt nach der Zeitung. Sie will heute die hintere Remise ausmisten, aber das hat Zeit.

1.2 Katharinas Tag
„Tsk.“ Katharina faltet die Zeitung zusammen und wendet sich ihrem Morgenkaffee zu. Nichts Neues, oder jedenfalls nichts Interessantes. Sommerloch, so weit das Auge reicht. Nur Verbrechen, das geht immer, aber die interessieren sie nicht. Während sie in kleinen Schlucken Kaffee trinkt, geht sie in der Wohnung auf und ab und überlegt, was sie für heute alles vorbereiten muss. Viel ist es nicht: In ihrem tadellos aufgeräumten Arbeitszimmer warten bereits die Materialien für die Nachhilfeschüler. Ihre Sporttasche für die Rückengymnastik am Nachmittag – lästig, aber in ihrem Alter unerlässlich – ist schnell gepackt. Regenschirm wird sie bei dem Sommerwetter wohl kaum brauchen. Eher die Sonnenbrille… wo ist ihre Sonnenbrille? Katharina sucht in der Handtasche herum, findet die Sonnenbrille nicht, sucht erneut, räumt sämtliche Seitenfächer aus und wieder ein. Keine Sonnenbrille. Wo hat sie… Da, auf der Kommode. Katharina seufzt. Wenigstens hat sie das vermaledeite Ding diesmal schnell gefunden.

Bis ihr erster Schüler kommt, hat sie noch fast drei Stunden. Nach ihrem etwas abrupten Ausscheiden aus dem Schuldienst hat sie lange gebraucht, um sich daran zu gewöhnen, Tag für Tag immense Mengen an Zeit zu ihrer freien Verfügung zu haben. Inzwischen hat sie allerdings so viele Projekte, dass ihr nur dann langweilig ist, wenn sie es möchte. Heute, beschließt sie, ist ein guter Vormittag, um sich ein wenig zu langweilen. Sie wird in den Park gehen, solange es noch nicht zu heiß ist, sich auf eine Bank setzen und nichts tun. Vielleicht ein bisschen mit ihrer Kölner Freundin… wie sagt man? Whatsappen. Praktische Sache, die einer ihrer Nachhilfeschüler ihr da installiert hat.

Die Wohnungstür fällt hinter ihr ins Schloss, und Katharina ist auf dem Weg.

1.3 Frida
Es ist Dienstag morgen, halb Acht. Frida liegt noch im Bett, zwar hat der Wecker um sieben geklingelt, aber sie ist der Typ „Sich das Leben durch exzessiven Gebrauch der Snoozetaste selber schwer machen“. Jetzt liegt sie immer noch da, ärgert sich über ihre Trägheit und freut sich gleichzeitig, dass sie nachts nicht aufgewacht ist, um sich kratzen zu müssen. Eigentlich gute Voraussetzungen für den Start in den Tag. Sie duscht und macht sich ihr Standard-Frühstück, französisch: Milchkaffee mit Marmeladentoast. Französische Esskultur, aber sehr unaufwändig, perfekt. Eigentlich spricht es gegen ihr Gewissen, noch Kuhmilch zu trinken und so wie sie sich jeden Morgen über die Snoozetaste ärgert, ärgert sie sich über ihren Milchkonsum, aber morgens kommt es ihr immer so vor, als könne das Leben ohne eine Tasse Milchkaffe nicht zu in Angriff genommen werden.
Sie fährt mit der S-Bahn zur Arbeit und nimmt dort das Tagwerk in Angriff: Tiere füttern, wenn es die Zeit erlaubt ein bisschen kraulen, Medikamente geben. Zwei der drei alten Hasen haben neuerdings Diabetes, ein Hund hat sich beim Spazierengehen die Pfote verstaucht und muss den Verband gewechselt bekommen, eine alte Katze bekommt Cortisontabletten gegen Menschenallergie. Verwaltungskram muss erledigt werden und so weiter. Dienstag nachmittags ist im Dellbrücker Tierheim „Adoptionstag“, Menschen können vorbeikommen sich über die Möglichkeit informieren, ein Tier aus dem Heim bei sich aufzunehmen.
Frida hängt ihre Tasche in den Schrank, lässt Pinguin aus seinem Käfig, was dieser mit einem müden „Pimmel in Scheiben schneiden“ quittiert und sich auf ihrer Schulter niederlässt. Sie setzt sich an den Computer, um nach der Post zu schauen.

1.4 Desmond
Desmond Janeway spielte ein Spiel. Die nächsten drei Autogrammjäger würde er mit geschlossenen Augen abfertigen. Nein, die nächsten fünf. Bis zum fünften würde ihm ein neues Spiel eingefallen sein und dann wären es wahrscheinlich nur noch zwei weitere Spiele, bis der letzte Fan beglaubigt, beschriftet und abgestempelt von dannen ziehen würde.
Mit einem theatralischen Seufzer senkte er den Blick, und als er ihn wieder hob, waren seine Augen geschlossen. Der nächste Fan rückte nach. Der Vorgang war auch im blinden Zustand erstaunlich einfach abzuwickeln und Janeway genoss die Ungewissheit darüber, wie seine Fans auf ihn reagierten. Vielleicht dachten sie, er wäre von Geburt an blind.
Schließlich war er kein Schauspieler oder Rockstar, bekannt aus Film und Fernsehen, sondern nur ein Sciencefictionautor der vierten, vielleicht fünften Liga. Es sprach nichts dagegen, dass er blind gewesen wäre. Natürlich wäre es aber interessanter gewesen, wenn ihm gerade jetzt jahrzehntelange Fans gegenübergestanden hätten, große Fans, wie sie häufig sagten, die allerhand über ihn wussten und von seiner plötzlichen Erblindung irritiert gewesen wären. Auch dann hätte ihn niemand darauf angesprochen, das wusste er. Sie hätten natürlich den Fehler bei sich gesucht.
Bethlehem Bestiary war wie immer in Deutschland ein viel größerer Erfolg als in Amerika, und zwar ein kleiner Indieerfolg, ein respektabler Nischenerfolg, ein moderater Hit im Science-Fiction-und-Fantasy-Regal hinten links um die Ecke im Buchladen. Solche Achtungserfolge wirkten sich unmittelbar auf Janeways Bankkonto und Gemüt aus, und zwar mit umgekehrten Vorzeichen.
Beim Schreiben stieß er plötzlich mit dem Füller gegen ein weiches Hindernis, vermutlich einen Finger, mit dem ein hilfreicher Fan dem gehandicappten Schriftsteller das Buch aufhielt. Desmond Jane würde hier genügen müssen. Waren das nun schon fünf Autogramme gewesen? Er hätte immer so weitermachen können. Mit einem weiteren dramatischen Seufzen öffnete er die Augen wie nach tiefem Schlaf und vollzog die Rückverwandlung zum Sehenden, ohne sich ein neues Spiel ausgedacht zu haben.
Der nächste Fan hielt ihm eine deutsche Ausgabe hin. Bestiarium Bethlehem: Angriff der Vatikanmutanten. Janeways deutsche Sprachkenntnisse reichten aus, um die Qualität der Übersetzung realistisch einzuordnen.
Als junger Mann hatte er gehofft, zumindest spanisch, deutsch und französisch auf literarischem Niveau schreiben zu lernen. Auf der Schule und im Studium hatte er so viele Sprachkurse wie möglich belegt. Er hatte durchaus Talent gezeigt und konnte sich auch heute noch auf einem Großteil der Erdoberfläche mühelos verständlich machen, aber außer in seiner Muttersprache hatte er es nur zum Sprecher, nicht zum Schreiber gebracht, vielleicht auch deshalb, weil er nicht viel Geduld für das Studium der Sciencefictionwerke der jeweiligen Länder hatte aufbringen können. Den Schmerz darüber, sich einem deutschen Übersetzer ausliefern zu müssen, hatte er vor langer Zeit in eine niedrige Kategorie von Kränkungen eingeordnet, die seiner Aufmerksamkeit nicht täglich bedurften, um ihn unglücklich zu machen. Dort war der Schmerz in guter Gesellschaft.
Der letzte Fan in der Reihe trug einen Anstecker mit einem Sternenflottenemblem. Janeway lächelte ihn halbherzig und mit ausdruckslosen Augen an. Immerhin würde nach ihm Schluss sein. Trekkies wussten, dass er, der Sciencefictionautor, einen Star-Trek-Namen trug. Natürlich hatte er den Namen zuerst gehabt und er war ihm gestohlen worden.
Im Laufe seiner Karriere hatte er immer wieder Pseudonyme benutzt, zunächst weil er das Gefühl gehabt hatte, seinen frühesten Werken, die unter seinem echten Namen erschienen waren, nicht mehr gerecht zu werden, später, in den Neunzigern, um sich von Captain Janeway zu distanzieren. Im Internetzeitalter hatte er es schließlich endgültig aufgegeben, Künstlernamen zu verwenden, weil die selbsternannten großen Fans ohnehin immer herausbekamen, dass er sich dahinter verbarg.
Ein kleiner Schluck aus dem Flachmann aus seiner Jacketttasche, eine halbwegs höfliche Verabschiedung von der Veranstalterin und schließlich endlich die dunkle Straße. Er hatte völlig vergessen, in welcher Richtung sein Hotel lag, und eine oder zwei glückliche Sekunden lang sogar, in welcher Stadt er sich gerade befand.

Er beschloss ein Spiel daraus zu machen.

1.5 Jack

Als Jack um 9:45 das Büro betrat, liefen ihm seine Kollegen Julia und Hannes sofort aufgeregt entgegen. Er müsse sofort zum QA-Chef ins Büro kommen, es sei sehr dringend. Was kann um diese Uhrzeit schon so dringend sein? Normale Menschen schlafen um diese Zeit noch! Jack konnte sich nie so recht daran gewöhnen, dass er spätestens um 9:30 in der Arbeit sein sollte. Wozu? Die Probleme waren in der Regel später auch noch da. Und jetzt auch noch diese Hektik am frühen Morgen! Für eine Tasse Kaffee muss aber noch Zeit sein.

Verschlafen und mit der Kaffeetasse in der Hand betrat er das Büro von Walter, dem Leiter der Qualitätssicherung.
„Was gibt’s so wichtiges?“, fragte er mürrisch.
„Hast du zehn Millionen Euro übrig?“ entgegnete Walter. „So viel kostet es uns nämlich, wenn wir die Software für den neuen Augenlaser nicht bis Ende der Woche ausliefern!“ „Aber…“ „Nichts aber. Mit dem dämlichen Bug, den du gestern gefunden hast, wirfst du uns um Wochen zurück! Kannst du denn nicht einfach mal die Klappe halten? Du bist Entwickler und kein Tester! Ich erwarte, dass du den Fehlerbericht sofort verschwinden lässt! Sofort, hörst du!“ Mit diesen Worten warf er Jack aus dem Büro.

Jack war sauer. Walter hatte schon recht, Fehlersuche gehörte nicht zu seinen Aufgaben. Aber wenn er zufällig auf etwas stieß, sollte er es nicht melden? Er doch wollte nur sein neues Konfigurationsmenü testen, als ihm ein mulmiges Gefühl beschlich. Die haben doch nicht etwa… Wenige Sekunden später hatte er Gewissheit: Es gab einen Fehler bei der Einstellung für die Intensität. Der Regler funktionierte genau umgekehrt. Jack hatte ja keine Ahnung von der medizinischen Anwendung, aber das kam auch ihm als Laien verdächtig vor. Also tat er, was für solche Fälle Vorschrift war: Er legte ein Bug-Ticket an und wies es den Kollegen von der Hardware-Steuerung zu. Und dafür wurde er jetzt zur Sau gemacht? Nein, an solche einer Vertuschung würde er sich nicht beteiligen.

Zurück am Arbeitsplatz öffnete er zuerst seine Mails. Eine Nachricht von Julia mit dem Betreff „After Work Biergarten“ löschte er ungelesen. Eine Termineinladung zu irgendeiner Abstimmungsrunde… Ja, OK, hilft ja nichts. Dann noch was vom Betriebsarzt zum Thema Vorsorgeimpfungen… Darum würde er sich kümmern, wenn er mal Zeit hatte. Dann noch ein Update zu einem Darstellungsfehler, den er letzte Woche gemeldet hatte. Moment mal, dachte er, was ist mit dem Intensitätsregler-Bug? Die Kollegen hätten das Ticket mittlerweile doch zumindest annehmen müssen. Jack öffnete die QA-Software und ging auf den Reiter „von mir gemeldet“ – Nichts! 13 geschlossene Meldungen der letzten Woche und der Darstellungsfehler „in Bearbeitung“, aber kein Fehler, der den Intensitätsregler betraf! Jack rieb sich verwundert die Augen. Aber er hat das Ticket doch erstellt, ganz sicher! Er überlegte, ob er es erneut anlegen sollte. „Soll Walter und seine obercoole Testabteilung sich doch darum kümmern“, murmelte er, und beendete die Software.

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2 Kommentare zu “What Rough Beast, Zug 0

  1. Endlich mal ein richtiger Schriftsteller. Bisher immer nur Möchtegern-Schriftsteller im Internet kennen gelernt. Aber du bist ein wahrer wie Edgar Poe oder Hermann Hesse. Muss mir morgen mal deine Werke vorlegen lassen, beim Bücherladen meiner Wahl. Und ich werde kaufen, kaufen, kaufen .. LG PP

  2. Ich freue mich sehr über den Kommentar, bin aber aufrichtig unsicher, welche Teile wie ironisch gemeint sind …?
    So oder so herzlich willkommen und viel Spaß beim Lesen!

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