Magnaflux (8)


Wir sind in Bad Gandersheim! Mindestens einer von euch konnte das ja gar nicht abwarten. Viel Spaß!

Agatas erste Empfindung bestand in Kälte, und Unbequemlichkeit.

Sie fror, als hätte sie seit Stunden, seit Tagen gefroren. Ihre Augen brannten, als hätte sie seit Stunden, seit Tagen bei Kerzenlicht in der finsteren Kemenate gelesen, und ihr Hintern war gleichzeitig taub und schmerzte, als hätte sie seit Stunden, seit Tagen auf dem harten Holzschemel gesessen.

Gerade eben hatte sie noch auf einer Straße in Jena gestanden, und jetzt saß sie hier, und es fühlte sich an, als hätte sie schon seit Tagen hier gesessen, als wäre Jena nur noch eine ferne Erinnerung.

Überhaupt nicht wie eine ferne Erinnerung fühlte sich hingegen die Hand an ihrem Arm an. Die Hand des Jungen.

„Ich hab die Karte doch getauscht“; sagte er. „Katja hat sich gefreut, das war schön, auch wenn sie nicht in dem Sinne mir dankbar war, weil sie ja dachte, ich bin nur blöd und weiß nicht, wie wertvoll Jace der Gedankenformer ist.“

Agata drehte sich langsam zu ihm um, sah in sein Gesicht, das gleichzeitig so … menschlich und so fremd wirkte, und versuchte, normal weiter zu atmen, während da dieses … Kind? neben ihr stand.

Er atmete tief ein, ließ die Luft langsam durch die Lippen strömen, und schaute dann zu ihr auf.

„Aber ist jetzt egal.“

Er trug ein T-Shirt, auf dem cartoonartig stilisierte Hasen und Kampfsportanzügen in verschiedenen Posen abgebildet waren, um den Schriftzug „Every Bunny Was Kung Fu Fighting“. Der natürlich den Schluss nahelegte, dass es sich gar nicht um Hasen handelte, sondern um Kaninchen.

Aber Agata fand, dass sie mehr wie Hasen aussahen.

„Wir sind jetzt hier, weil ich Sie hierher gebracht habe. Oder sie uns. Sie haben … etwas mit mir gemacht. Aus mir. Verstehen Sie?“

Für einen Moment schimmerte so etwas wie verzweifelte Hoffnung im Gesicht des Jungen auf, als wäre es unglaublich wichtig für ihn, dass Agata ihn verstand. aber dann verschwand der Ausdruck wieder.

Hatte eines der Kaninchen ein Messer? Und war es gerade dabei, sich damit selbst –

„Schauen Sie besser nicht so genau hin. Es wird Ihnen nicht gut tun“, sagte der Junge.

Er klang auf bizarre Art genau so, wie ein Zwölfjähriger klingen sollte, und doch ganz anders.

„Was bist du?“ fragte sie, bevor sie selbst bewusst verstanden hatte, dass die Worte sich in ihrem Verstand gebildet hatten. „Wer … seid ihr? Was willst du? Warum…?“

Er nickte, und lächelte dabei wie jemand, der ein trauriges Geheimnis kennt.

„Ich bin Kai“, sagte er. „Ich bin zwölf. Und ich kehre nie wieder nach Hause zurück.“

„Aber … Du gehörst doch zu … Du bist doch … Ihr seid doch hinter mir her, oder?“

Wieder dieses Lächeln, dann wurde das Gesicht des Jungen ausdruckslos, und er sagte in einem ganz und gar nicht kindlichen Ton:

„Ich bin keiner von ihnen.“

„Du … arbeitest für sie?“

„Sie haben etwas aus mir gemacht“, antwortete Kai. „Mehr. Weniger. Was anderes.“

„Und sie haben dir doch aber einen Auftrag gegeben? Du bist doch nicht zufällig hier?“

„Das stimmt.“

Er nickte und schaute auf seine Füße.

„Sie müssen natürlich am Ende schon sterben.“

Dann schaute er auf, direkt in ihre Augen, und lächelte, und zeigte dabei seine weißen, kleinen, merkwürdigen aber sie wollte nicht so genau hinschauen Zähne und sagte:

„Aber das müssen ja eh alle, oder?“

Sie wusste nicht, ob sie auch lächeln sollte, oder betteln, oder schreiend aufspringen und versuchen wegzulaufen, oder den Schemel aufheben, auf dem sie saß, und versuchen, das kleine Monster damit totzuschlagen.

In jedem Fall würde sie ganz sicher nicht wieder auf sein T-Shirt schauen. Die Hasen sahen nicht mehr besonders aus wie Hasen, obwohl die langen Ohren noch da waren. Und die langen Zähne.

„Ja“, antwortete sie ihm zunächst einfach, aus der Überzeugung heraus, dass sie damit keine der anderen Optionen präkludierte. „Ich denke, das müssen wir.“

Für bestimmt eine Minute herrschte Schweigen, für das das Wort entspannt sicher geschmeichelt gewesen wäre, das sich aber in Anbetracht der Situation erstaunlich wenig albtraumhaft anfühlte.

Dankbarkeit für die kleinen Dinge.

Agata sah sich um und entdeckte ein kleines Messer auf dem Tisch. Es war sicher nicht als Waffe gedacht, aber …

Er sah nun mal aus, als wäre er zwölf.

Sie konnte nicht einfach einem Zwölfjährigen ein Messer in den Körper rammen, oder? Nicht einmal so ein kleines Federmesser.

Andererseits.

Sie packte das Messer , stieß einen Schrei aus, der sie selbst sehr überraschte, und stieß es –

Er war weg.

Was…?
Von der Wucht des beabsichtigten Angriffes getragen, kippte sie von ihrem Schemel und landete recht würdelos auf dem steinernen Boden dieser sonderbaren kalten Kammer.

Verwirrt sah sie sich um, und fand den Jungen schnell wieder. Er stand jetzt schräg hinter ihr, ganz ruhig und offensichtlich nicht in der Absicht, einen Gegenangriff auszuführen.

Er lächelte allerdings sehr schadenfroh zu ihr hinab. Das war auch nicht nett.

„Versuchen Sie es gerne noch ein bisschen“, sagte er, „Wenn es Ihnen hilft, die Situation zu akzeptieren.“

Sie seufzte.

„Ich glaube, ich hab schon genug.“

Kai streckte eine Hand nach ihr aus und schaute für diesen Moment wieder einfach nur wie ein freundlicher Zwölfjähriger, der ihr aufhelfen wollte.

Sie versuchte, sich von der Fassade so gut täuschen zu lassen, wie sie eben konnte, und ergriff seine Hand. Wie ein echter Zwölfjähriger war er keine große Hilfe beim Aufstehen, sondern stolperte lachend auf sie zu, von ihrem viel größeren Gewicht gezogen, während sie wieder auf dem Hintern landete.

„Ich sagte, ich hab schon genug“, grummelte sie, und stand alleine wieder auf, während er immer noch kicherte, eine Hand vor dem Mund, die andere auf sie zeigend.

Sie stemmte die Hände in die Hüfte, atmete tief durch und fragte:

„Was wollt ihr denn jetzt von mir?“

„Ich bin keiner von ihnen!“ rief er, beleidigt.

Sie verkniff sich eine Grimasse und fragte stattdessen:

„Was wollen sie von mir?“

Er machte ein So-ist-gut-Gesicht und nickte.

„Sie wollen etwas, was sie selber nicht machen können, weil sie es nicht verstehen. Und ich verstehe es auch nicht, weil ich zu jung bin, und weil sie mich verändert haben.“

Agata hob eine Augenbraue.

„Weil … du zu jung bist? Was wollen sie von mir?!“

Kai grinste verlegen.

„Kennen Sie Hrotsvit?“

„Gesundheit?“

Zu ihrer Überraschung lachte er, laut und begeistert, als hätte er den dummen Witz zum ersten Mal gehört.

„Rostwitha von Gandersheim?“ fragte er noch einmal, als er sich beruhigt hatte.

Agata überlegte kurz.

„Nein, nie gehört. Glaub ich.“ Sie sah sich in der Kammer um. „Eine historische Person? Geschichte fand ich immer langweilig.“

Er nickte wissend.

„Ich auch! Und Herr Bernward ist so ein fieser Sack! Letzte Woche hab ich fast geheult, weil er mich einfach nicht in Ruhe lassen wollte! Er hatte …“ Kai stockte, sein Kopf zuckte ein wenig, und er blinzelte. „Er ha-“ Wieder unterbrach er sich, und sein Kopf zuckte zur Seite.

Er nahm einen zerrissenen Atemzug und begann einen neuen Satz, den er in einem sehr getragenen Tonfall sprach, als würde er ihn unter Hypnose ablesen:

„Roswitha von Gandersheim, auch genannt Hrotsvit, war ab 949 Ihrer Zeitrechnung Kanonisse des Stiftes Gandersheim und gilt als erste dokumentierte deutsche Dichterin, die die ersten noch überlieferten Dramen nachantiken Datums verfasste. Durch die Gesta Ottonis ist ihre große Wertschätzung des Kaisers Otto I dokumentiert.“

Er sah sie hoffnungsvoll an. Agata biss sich auf die Unterlippe.

„Kenn ich nicht“, sagte sie.

Er zuckte die Schultern.

„Wir hatten sie in der Fünften mal, und mussten ein Gedicht von ihr auswendig lernen. Herr Bernward hat mich ge-“ Noch einmal das Blinzeln und das merkwürdige Zucken.

Diesmal hörte das blinzeln lange nicht auf. bestimmt zehn Sekunden stand er einfach da und blinzelte schnell, und sie wollte gerade schon einen Schritt auf ihn zu machen und fragen, ob alles in Ordnung war, als er schließlich hastig hervorstieß: „Sie wollen, dass Sie die Rolle von Hrotsvit übernehmen und Otto I heiraten!“

Jetzt blinzelte Agata.

„Oh Mann“, murmelte sie.

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