Magnaflux (6)


Und noch’n Kapitel!

Vermisst eigentlich jemand die Zusammenfassung am Anfang?

Der bärtige Mann in dem Hemd mit den bunten Fischen darauf gähnte und schob sich die wirren dunkelgrauen Haare aus der Stirn.

Achtsam sah er sich auf der Straße vor dem Wohnhaus von Lukas Peisker um. Er betrachtete nicht nur das Gebäude, sondern auch die Passantinnen und Passanten, auch wenn es nicht sehr viele waren zu dieser Zeit und in dieser Gegend. Er betrachtete die Steine, die das Pflaster bildeten, die Bäume an den Parkplätzen und sogar die zwei kleinen zähen Löwenzahne, die sich vor der ersten Stufe des Hauseinganges durch den Beton gezwängt hatten.

Er war ein besonderer bärtiger Mann.

Er war nicht stolz darauf.

Aber er wusste es.

„Entschuldige bitte“, sagte er zu einem zwölfjährigen Kind, das auf die Tür zu rannte, „Kann ich ich kurz etwas fragen?“

Der Junge hielt inne und betrachtete den Mann zunächst skeptisch, dann, als sein Blick das bunte Hemd erreichte, mit einer Mischung aus Belustigung, Ekel und Mitleid.

„Wasn?“

Der Mann mit dem bunten Hemd lächelte den Jungen an, beugte sich zu ihm hinab, sah ihm in die Augen und sagte freundlich und in beiläufigem Ton: „Du solltest die Karte nicht tauschen, und Katja weiß das auch.“

Der Junge trat einen Schritt zurück und machte karpfenhafte Bewegungen mit dem Mund.

„Sind Sie … Katjas Vater?“ fragte er.

Der Mann lächelte noch ein bisschen breite und zwinkerte ihm zu. Der Junge trat noch einen Schritt zurück, sah sich um und entspannte sich ein bisschen, denn er sah noch drei andere Erwachsene in der Straße, von denen eine – eine junge Frau in einem geschäftsmäßigen Hosenanzug – sogar stehengeblieben war und die beiden beobachtete. Erkennbar darum bemüht, nicht zu auffällig zu starren, hatte sie ihr Telefon hervorgezogen und tippte darauf herum, aber sie schaute zu oft zu ihnen, als dass es ihr wirklich um den Inhalt ihres Bildschirms hätte gehen können.

„Sie könnte dich nicht beschützen“, sagte der Mann, „Aber das muss sie auch nicht.“

Der Junge riss die Augen auf, und den Mund, und –
„Tritt noch einen weiteren Schritt zurück, einen einzigen, einen halben, und ich reiße dich in zwei Hälften“, fauchte der Mann, sein Gesicht plötzlich eine albtraumhafte Maske des Hasses und der Angriffslust und der Junge gefror. Er wagte nicht einmal mehr zu atmen.

„Gut.“

Der Zorn, der gerade noch die Gesichtszüge des bärtigen Mannes entstellt hatte, verschwand so plötzlich, wie er gekommen war, und nun lächelte er wieder.

Der Junge schaute zu der Frau mit ihrem Telefon hinüber, aber sie schien nichts bemerkt zu haben. Wie? Der Mann war nicht sehr laut gewesen, er hatte nicht geschrien, aber …

„Komm“, sagte der Mann freundlich, „wir gehen jetzt mal da rein – du hast doch einen Schlüssel, mach mir bitte die Tür auf. Umso schneller sind wir fertig und du wieder frei.“

Der Junge schluckte, wagte aber nicht, zu widersprechen.

Er öffnete die Tür für den Mann, und nachdem der sie hinter ihnen zugezogen hatte, waren sie alleine im Treppenhaus. Der Hals des Jungen schnürte sich zu.

Aber als er seinen ganzen Mut zusammen nahm und sich zu dem Mann umdrehte, lächelte der nur ein bisschen ratlos, fast betreten.

„Es tut mir leid, dass ich vorhin die Contenance verloren habe“, sagte er. „Sie … haben etwas aus mir gemacht. Etwas anderes. Sie …“ Er lächelte traurig und schüttelte den Kopf. „So ein Quatsch. Was kümmert dich mein Gejammer? Es tut mir leid. Lassen wir es dabei. Komm, wir gehen zu Lukas‘ Wohnung rauf.

„Was … Was wollen Sie von mir?“ fragte der Junge. „Brauchen Sie Hilfe? Ich kann einen Arzt für Sie rufen, ich hab ein Handy“, er griff in seine Tasche, aber der Mann schüttelte den Kopf, und als der Junge sah, wie das Lächeln aus seinem Gesicht verschwand, zog er die Hand ohne das Gerät wieder hervor und ließ sie sinken.

„Lass es, wo es ist“, sagte der Mann, nicht unfreundlich, kein bisschen wütend, aber auch ohne jeden Zweifel daran, dass es kein Vorschlag und keine Bitte war.

„Ist gut“, antwortet der Junge leise.

Er schnieft und wischt verstohlen einen Ärmel durchs Gesicht.

Der bärtige Mann in dem bunten Hemd geht voran, und der Junge folgt ihm. Er betrachtet dabei das Hemd des Mannes. Die Fische haben nicht nur unterschiedliche Farben. Es sind alles unterschiedliche Fische. Der Junge kann nicht sage, welcher eine Scholle, welcher eine Flunder und welcher vielleicht eine Makrele ist, aber sie sehen aus wie normale Fische, nur eben unter-

Er stockt und blinzelt.

Da unter dem rechten Schulterblatt des Mannes war ein Anglerfisch. Den kannte der Junge. Und es war nicht nur überhaupt ein Anglerfisch auf diesem albernen bunten Hemd. Es war ein scheußliches Bild von einem Anglerfisch, von schräg oben vorne, die Laterne nur undeutlich im Vordergrund, und im Focus die langen unregelmäßigen Zähne des weit aufgesperrten Mauls. Der ganze Fisch schien auf diesem Bild fast vollständig aus diesem riesigen Maul zu bestehen. Und … da, im Hintergrund … tiefer im Wasser … Zeichnete sich da undeutlich …?

Es klickte, und die Tür schwang auf.

„Komm bitte mit rein“, sagte er Mann, freundlich, aber wieder eindeutig nicht als Bitte.

„Wie haben Sie die aufgemacht?“

Der bärtige Mann hob die Augenbrauen, lächelte schief und warf einen „Ernsthaft?“-Blick zu dem Jungen hinunter.

Was, wenn er jetzt um Hilfe rief? Sein Vater müsste zu Hause sein, und er war nur ein Stockwerk unter-

„Wenn du willst, dass er auch stirbt, dann ruf ihn gerne. Je mehr, desto fröhlicher.“

„Ich“, sagte der Junge. „Ich.“

Mehr fiel ihm nicht ein.

Er wollte nicht alleine sein. Er hatte Angst. Er wollte seinen Vater rufen. Aber er war auch außer Stande, daran zu zweifeln, dass alles, was der Mann in dem bunten Hemd sagte, genau so eintreffen würde.

Und er wollte nicht, dass sein Vater starb. Er wollte nicht, dass das letzte, was er sah, der Tod seines Vaters war.

Er war ein bisschen stolz auf sich, dafür.

Was, wenn er versuchte –

„Wenn du versuchst, wegzulaufen, rufe ich deinen Vater.“

Der Junge senkte den Kopf, folgte dem Mann in die Wohnung und hörte, wie hinter ihnen die Tür mit einem furchtbar endgültigen Geräusch ins Schloss fiel.

„Was wollen Sie –“

„Du wirst es bald erfahren. Jetzt sei bitte still.“

Der bärtige Mann trat weiter in die Wohnung hinein, drehte sich zweimal um die eigene Achse, sog die Luft durch die Nase ein. Er atmete tief und schnell und stoßweise, wie ein Spürhund.

Kurz blieb der Blick des Jungen wieder an seinem Hemd hängen. Ja. Da war etwas, im Hintergrund, unter den anderen Fischen. Und … sahen die anderen Fische krank aus?

„GEJAGT?“ rief der Mann plötzlich, und der Junge zuckte zusammen. Es war nicht die Stimme des Mannes, es war eine völlig andere, eine Frauenstimme.

„Ein Problem“, sagte er, in einer anderen Frauenstimme, dunkler und viel ruhiger. „Ungefähr, ja.“ „Fremde Macht“, und zum Schluss schrie er noch einmal in der ersten Frauenstimme: „GENERAL SHAW!“

Er stieß ein halb grunzendes, halb knurrendes, halb lachendes Geräusch aus und verschwand erschreckend schnell durch eine Tür in ein anderes Zimmer. Seine Bewegung hatte dabei eine unangenehm insektenhafte Qualität, zu schnell, zu steif. Ekel und Angst trieben kalten Schweiß auf die Stirn und unter die Arme des Jungen. Er drehte sich um und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Türklinke.

„Mach einen Schritt auf sie zu“, knurrte die Stimme des Mannes. Sie kam aus dem anderen Raum, aber sie klang doch, als spräche er direkt in das Ohr des Jungen. „Einen einzigen Schritt. Oder streck die Hand aus. Das zählt auch.“

Jegliche Freundlichkeit war wieder verschwunden. Der Mann klang wie Shir Khan.

„Ich hab Angst“, sagte der Junge. Seine Zähne klapperten. Er hatte nicht gewusst, dass das wirklich passierte. Er hatte immer gedacht, das wäre nur eine Metapher.

„Nicht mehr lange“, sagte der Mann.

***************************************************

„General Shaw!“

„Was?“

Sie drehte sich mit zusammengezogenen Brauen und loderndem Blick zu Milosz um. Konnte sie nicht mal eine Minute …

„Wir registrieren ansteigende Tachyonenwerte.“

„Wie stark ansteigend?“

„Ein Magnaflux-Ereignis bahnt sich an, General“, sagte Kacpers stets entspannt-gutgelaunte Stimme. Milosz nickte, sichtbar fassungslos.

„Wie, es bahnt sich an?“ fragte Shaw. “Wer hat es denn initiiert? Ich habe doch gesagt, dass Dr. Bednarek erst zurückkehren darf, wenn –“

„Wir waren es nicht, General“, unterbrach Milosz sie.

„WAS?“

Jetzt hörte sie auch das sich langsam steigernde Dröhnen der Maschine.

Diesmal antwortete wieder Kacper: „Ich halte es für die einzige plausible Erklärung, dass es von der fremden Macht initiiert wurde. Meine vorläufigen Berechnungen zeigen, dass es möglich wäre, die letzte Übertragung zurückzuverfolgen und so auf die Zeitmaschine zuzugreifen. Ich gehe davon aus, dass dies gerade geschieht und die Fremde Macht einen Quantensprung in unsere Kammer versucht.“

Shaw wurde heiß und kalt. Sie griff nach einem Stuhl, wollte sich darauf stützen, merkte aber noch rechtzeitig, dass er Rollen hatte. Es fühlte sich trotzdem gut an, die Hand auf einen festen Gegenstand legen zu können.

„Was …“ begann sie, und unterbrach sich selbst mit einem anderen Gedanken: „Können wir es unterbrechen?“

„Positiv“, erwiderte Kacper. „Wir müssten dafür die Energiezufuhr zum tachyonischen Feldgenerator unterbrechen.“

„Also im Grunde die gesamte Maschine abschalten.“

„Genau.“

„Würde das nicht … alles zurücksetzen? Wir würden die Verbindung zu Dr. Bednarov verlieren?“

„Genau.“

Das Geräusch wurde lauter und steigerte die Frequenz.

„Wie lange würde es dauern, Sie wieder aufzubauen?“

„General“, rief Milosz, „Der Fluss liegt schon bei sieben KiloBai, Sie sollten sich bald entscheiden. Ab neun ist Magnaflux möglich.“

„Nach meiner Schätzung bräuchten wir wahrscheinlich zwischen einer und zwei Wochen“, beantwortete Kacper ihre vorherige Frage.

„Sieben Komma Acht.“

„Tu’s! Jetzt, sofort!“

„Beginne Abschaltung des tachyonischen Feldgenerators.“

„Acht Komma Zwei!“

Sie konnte Milosz schon nicht mehr richtig hören über dem Dröhnen der Maschine, und trat näher an ihn heran. Dass sie dabei den Stuhl mitzog, wäre ihr unter anderen Umständen vielleicht unangenehm gewesen, aber nun hoffte sie darauf, dass es niemand beachten würde.

„Verbindung ist getrennt.“

„Der Wert steigt weiter. Acht Komma Vier!“

„Eine vorübergehende weitere Steigerung ist durch Rückkopplungseffekte möglich, während die topologische Spannungskompensation herunterfährt.“

„Wie vorübergehend? Wie weit? Ist es möglich, dass wir Neun erreichen?“

„Acht Komma Fünf.“

„Möglich, aber sehr unwahrscheinlich“, antwortete Kacper.

„Wollen wir evakuieren?“ frage Milosz.

„Noch nicht.“

„Aber es steigt weiter! Acht Komma Sechs!“

„Wie unwahrscheinlich?“ fragte sie.

„Unter 0,1“, antwortete Kacper.

Sie atmete tief durch, war froh über das Dröhnen, das den Raum erfüllte und so verhinderte, dass jemand hörte, wie zerrissen ihr Atemzug klang.

„Das reicht mir. Wir bleiben.“

„Aber wir können ohnehin nichts …“ Milosz schaute auf seine Anzeigen und sank sichtlich in sich zusammen, als er sich entspannte. „Acht Komma Fünf. Tendenz fallend.“

Sie zwang sich zu einem zufriedenen Lächeln und nickte.

„Na also!“

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