Die Ersten Magi


Ich habe eine Kurzgeschichte für euch!

Ursprünglich habe ich die auf diesen Aufruf hier geschrieben:

Aber weil der neue PHANTAST schon erschienen ist und ich von Judith nichts mehr gehört habe, denke ich mal, dass Literatopia kein Interesse an meiner kleinen Kurzgeschichte hat. Na gut. Bleibt mehr für uns, hm?

Viel Spaß!

Ach so, CN für die, die es interessiert: Es geht um Rassismus, Abschiebung, Polizei. Wenn ihr das nicht lesen mögt, dann vielleicht besser nicht klicken.

„Hey Türkin! Na wie waren die Ferien, Türkin?“
„Gut, ich bin keine Türkin, und sogar wenn ich eine wäre, wärst du ein rassistischer Arsch, und halt die Fresse Thomas!“
„Ich sag dir, was du bist, du bist eine…“
Auch wenn Thomas es nicht mehr aussprechen würde, weil Herr Bartkowiak reingekommen war, wusste Munira genau, was sie für Thomas war. Sie war trotzdem ganz froh, dass er es nicht mehr ausgesprochen hatte. Keine große Genugtuung, eigentlich fast gar keine, aber bis auf Weiteres alles, was sie bekommen würde.
Natürlich tat Herr Bartkowiak einfach so, als hätte er von dem Satz, dessen Vollendung er unterbrochen hatte, gar nichts mitbekommen. Das machten die Lehrer*innen hier alle so. Sie wussten, dass sie zu nichts anderem mehr kommen würden, wenn sie jeden rassistischen Scheißspruch in der Schule zu unterbinden und durch passende Erziehungsmaßnahmen für die Zukunft zu verhindern versuchen würden. Es war einfach so, und alle wussten das. Manchen gefiel es, manchen war es egal, und die anderen nahmen es zumindest hin.
„Julia, was hast du bei 4b raus?“, fragte sie leise ihre Sitznachbarin, während Herr Bartkowiak noch seine Tasche auf den Tisch stellte, seine Schüler*innen musterte wie ein Feldherr seine Legionen vor der Schlacht, die Verschlüsse aufschnappen ließ und anfing, Unterlagen auf seinen Tisch zu knallen. „Ich hab 4x²+c, aber ich fand die Aufgabe komisch?“
Julia zuckte die Schultern und schob Munira ihren Block rüber, aber Munira kam nicht mehr dazu, die Aufgabe zu finden. Es klopfte an der Tür des Klassenraumes, was für sich schon ungewöhnlich genug war, denn Herr Bartkowiak war schon da, und Schüler*innen, die sich verspätet hatten, klopften nicht, die schlichen einfach unauffällig rein.
Herr Bartkowiak schaute wie die meisten Schüler*innen verwirrt zur Tür.
„Ja?“, rief er unwirsch.
Die Tür öffnete sich und die Schuldirektorin Frau Jespersen kam herein. Sie war erkennbar darauf bedacht gewesen, die Tür nicht zu weit zu öffnen und sie hinter sich sofort wieder zu schließen, aber Munira hatte dahinter dennoch kurz Anblick aufblitzen sehen, vor dem sie sich seit Jahren fürchtete und von dem sie manchmal sogar Albträume hatte: dunkelblaue Uniformen, Funkgeräte an den Schultern, dicke schwarze Gürtel, schwarze Kampfstiefel.
„Munira, kanst … Kannst du bitte mal mit rauskommen?“, fragte Frau Jespersen.
Die Schuldirektorin sprach untypisch leise, und ihre Stimme zitterte ein wenig. Sie sah Munira nicht an, und ihre Finger nestelten an einem Knopf ihrer Strickjacke.
Muniras Hals schnürte sich zu bei dem Anblick, sie spürte Tränen in ihre Augen schießen und fand beinah albern, wie sie sich in diesem Moment mehr darum sorgte, jetzt vor der ganzen Klasse zu heulen als vor dem, was hinter der Tür im Flur auf sie wartete.
„Nein“, antwortete sie. „Nein kann ich nicht. Ich … Ich will nicht.“
Sie sah an Julias entsetzt mitleidiger Miene, dass sie nun auch verstanden hatte, was passierte, anders als Herr Bartkowiak, der Munira einfach nur empört angaffte, vielleicht ungefähr so, wie er angemessener Weise beim Reinkommen Thomas angesehen hätte.
„Munira, du wirst jetzt so…“
Er verstummte auf eine Geste der Direktorin, die jetzt endlich den Mut gefunden hatte, vom Boden aufzusehen und Munira nun direkt in die Augen sah.
„Bitte“, sagte Frau Jespersen. „Komm einfach mit. Ich muss mit dir sprechen.“
Munira hätte beinah laut gelacht vor Verachtung für die Schuldirektorin, die es sogar jetzt nicht über sich brachte, einfach klar zu sagen, was los war.
„Was hat die Türkin denn gemacht?“, fragte Thomas, leise genug, dass Herr Bartkowiak und Frau Jespersen so tun konnten, als hätten sie es nicht gehört.
„Ich geb dir gleich Türkin, halt endlich dein Maul!“, zischte jemand zurück.
„Hürrem!“, mahnte Herr Bartkowiak.
Natürlich. Sie wies er zurecht.
„Munira, komm bitte-„
„Nein!“, rief jetzt auch Julia. „Das können Sie nicht machen!“
Munira legte eine Hand auf ihren Arm. „Lass es gut sein.“
„Aber …“
Munira klappte ihr Buch zusammen und schob es in den Rucksack.
Sie wollte nicht schreiend hier rausgezerrt werden und als Video auf Twitter landen, das Leute betroffen teilten mit #NieWiederCDU oder so.
„Lass die Sachen ruhig hier“, sagte Frau Jespersen mit einem nervösen Blick zur Tür.
„Das geht ganz schnell“, sagte Munira, so ruhig sie konnte.
Hastig packte sie all ihre Sachen ein, warf den Rucksack über eine Schulter, atmete tief durch und folgte der Schuldirektorin nach draußen auf den Flur.
Die vier Bundespolizist*innen, die dort warteten, waren nicht so nervös wie die Direktorin, aber drei von ihnen zeigten zumindest ein gewisses Bewusstsein für die Absurdität der Situation. Nicht so die vierte, eine hochgewachsene Frau mit harten blauen Augen und einem langen hellbraunen Zopf, der bis fast zur Hüfte unter ihrem Barett herabfiel. ‚SCHAPER‘ stand auf ihrem Namesschild. Sie trat sofort auf Munira zu, als die Tür des Klassenzimmers sich geschlossen hatte, packte ihren Arm und griff mit der anderen Hand nach einer Tasche an ihrem Gürtel. Ihr Mund war ein schmaler, dünner Strich.
„Aua!“, rief Munira, mehr vor Schreck, aber der Griff der Bundespolizistin war wirklich sehr hart.
„Muss das denn wirklich …?“, fragte Frau Jespersen leise.
„Lass sie los, Pat“, sagte einer der drei anderen. Auf seinem Namensschild stand ‚BANNERS‘.
Schaper schnaubte frustriert und ließ Munira los.
„Wenn sie wegrennt, fangt ihr sie wieder ein“, murrte sie.
„Kommen Sie bitte mit“, sagte Banners zu Munira, ohne weiter auf Schaper zu reagieren.
Er sah Munira dabei immerhin in die Augen, und seine Mundwinkel waren ein kleines Stück nach unten gebogen. Die vier waren nicht ganz so schlimm wie die in Muniras Albträumen. ‚At least I got that going for me‘, dachte Munira, und musste fast lachen.
„Sie sind ausreisepflichtig“, erklärte Banners ihr, „Das BAMF hat Sie darüber informiert, dass Ihr Asylantrag abgelehnt wurde und Sie deshalb -„
„Olaf, spar dir den Mist doch, sie versteht dich doch eh nicht“, sagte Schaper.
„Klar versteh ich den Mist“, widersprach Munira. „Aber er kann ihn sich trotzdem sparen.“
Banners senkte darauf kurz den Blick und schaute auf seine Stiefel.
„Wir wurden angewiesen, Ihre Ausreisepflicht zu vollstrecken. Bitte begleiten Sie uns.“
„Und wenn nicht?“, fragte Munira, und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht, und ein bisschen Rotz, der aus ihrer Nase lief, als ihr Unterarm dagegen drückte. Es war ihr egal.
„Wenn Sie uns nicht freiwillig begleiten, müssen wir Sie zum Fahrzeug führen“, antwortete Banners.
Er sah sie jetzt wieder an, aber sie wollte nicht wissen, was in seinem Gesicht passierte.
Munira nickte mit geschlossenen Augen.
„Okay. Ich hoffe, ihr könnt nachts nicht schlafen, ihr Arschlöcher.“
„Pat, wenn du sie noch einmal anfasst, meld ich dich bei der Chefin, ich schwörs dir“, hörte sie Banners sagen, und hinter ihr stöhnte die Polizistin genervt.
Eine von den anderen beiden flüsterte was zu ihrem Kollegen.
„Ich komm mit“, murmelte Munira.
„Gib mir den Rucksack“, sagte Schaper hinter ihr.
„Muss das denn wirklich …?“, fragte Frau Jespersen noch einmal.
Niemand beachtete sie.
Munira ließ sich den Rucksack abnehmen und trottete zwischen den vier Polizist*innen aus der Schule.
„Was zum Teufel ist denn …?“, murmelte eine von ihnen, und Munira spähte an den breiten uniformierten Rücken vor sich vorbei.
Da stand ein leerer Bus mit offener Tür, dessen Fahrer auf dem Lenkrad lag und zu schlafen schien, und an der Tür lehnte mit verschränkten Armen eine absonderliche Gestalt in einem langen dunkelblauen Samtmantel mit einem breitkrempigen roten Hut auf dem Kopf, in dessen Band etwas steckte, das von hier aus wie eine alte vergilbte Schriftrolle aussah.
Alle vier Bundespolizist*innen waren stehen geblieben und standen ähnlich verwirrt und ratlos da wie Munira selbst.
Die alberne Figur hob den Kopf, und für einen Moment hatte Munira den Eindruck, dass sie ihr zuzwinkerte.
„Munira Chahuán?“ fragte die Figur mit warmer, freundlicher Stimme. „Schön, dass wir uns-„
„Was ist das für ein Clown?“, fragte Schaper. „Olaf, willst du noch irgendwas machen, oder hast du endlich entschieden, vollständig in deiner Weicheiigkeit aufzugehen?“
Die auffällig roten Lippen der Figur – trug sie Lippenstift? Aber sie hatte auch einen Bart, wenn auch einen eher fadenscheinigen. Aber jetzt wo sie die Arme ausbreitete, sah Munira auch deutlich eine Wölbung von Brüsten unter dem Mantel.
„Sie sollten lernen, die Pronomen und das Geschlecht von Leuten nicht einfach zu unterstellen“, sagte die verkleidete Person vor dem Bus. „Das ist rücksichtlos und transfeindlich.“
„Scheiße, ein Pomo“, schnaubte Schaper.
„Sei still, Pat“, zischte Banners. Lauter fragte er in Richtung der Person in dem blauen Mantel: „Wer sind Sie, und was ist hier passiert? Haben Sie das getan?“
Die Figur nickte.
„Je nachdem, was Sie meinen, aber ja, eigentlich schon.“
Munira hörte das schabende Geräusch, und ihr Blick zuckte zu Schaper. Die Bundespolizistin hatte ihre Waffe gezogen und richtete sie auf die fremde Person.
„Pat, spinnst du?“, fragte Banners.
„Der Typ hat eine Abschiebung vereitelt und den Fahrer angegriffen“, antwortete seine Kollegin. „Vielleicht hat er ihn sogar umgebracht. Und er ist offensichtlich krank im Kopf. Ich hab keine Ahnung, wie gefährlich der ist, aber ich würds lieber so rausfinden als anders.“
Die Person mit dem breiten Hut hob einen Zeigefinger ihrer linken Hand, so herum, dass Munira den goldenen Lack auf dem Nagel in der Sonne glänzen sehen konnte.
„Einmal dürfen Sie mich noch männlich bezeichnen, aber dann ist wirklich Schluss.“
„Jetzt bedroht er uns“, knurrte Schaper.
„Pat, wir müssen das hier jetzt nicht eskalieren“, antwortete Banners ihr.
„Letztes Mal“, sagte die Person vor dem Bus, immer noch ganz freundlich und eher amüsiert als verärgert.
„Wer sind Sie?“, fragte Banners. „Und was ist hier passiert?“
„Ich bin eine*r der Ersten Magi“, antwortete die Figur. „Und Sie werden in Zukunft öfter von uns hören.“
Schaper zischte: „Siehst du??“
Die Person mit dem Hut fuhr fort: „Und Ihr*e Kolleg*in sieht das ganz richtig. Ich habe Ihre schöne Abschiebung ganz vereitelt, und zumindest im strafrechtlichen Sinne habe ich auch Ihre*n Fahrer*in angegriffen. Denke ich zumindest, es gibt meines Wissens zu genau so einem Fall noch keine Rechtsprechung. Und es kommt sogar noch schlimmer: Ich vereitele jetzt gleich noch eine Abschiebung. Wenn ich eh schon mal hier bin, und so.“
„Hättest du gern, du Wichser“, knurrte Schaper.
„Ich hab Sie gewarnt!“
Die Person tat einen Schritt nach vorn – oder versuchte es zumindest – und fiel der Länge nach flach aufs Gesicht. Lachend richtete sie sich wieder auf, wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht und klopfte den Staub von ihrem Mantel.
„Tut mir leid. Ich … übe das noch. Bins nicht mehr gewohnt.“
Und dann … geschah irgendetwas mit der Zeit.
Auf eine Art, die Muniras Kopf weh tat, bewegte die Figur in dem blauen Mantel sich zugleich sehr, sehr langsam wie durch Wasser auf die Bundespolizistin mit der Waffe zu, war aber auch so unfassbar schnell, dass ihre Bewegung vor den Augen verschwamm und zu einem einzigen spektrumhaften Zustand von Koinzidenz zerschm… Munira presste die Lider zusammen, um den übelkeitserregenden Anblick nicht länger ertragen zu müssen.
Als sie sie wieder öffnete, lagen die vier Polizist*innen kraftlos zusammengesackt und (hoffentlich?) bewusstlos um sie und die fremdartige Figur herum auf dem Boden. Die Figur hielt Banners Pistole zwischen gespreizten Fingern, wie man vielleicht ein fremdartiges Insekt hielt, und spähte neugierig in den Lauf.
„Vorsicht“, murmelte Munira, die gerade absolut keine Vorstellung von einer angemessenen Reaktion auf die Umstände hatte und sich deshalb an dem einen Punkt festhielt, der ihr halbwegs gewiss vorkam: In den Lauf einer geladenen Pistole zu schauen, war keine gute Idee. „Das ist das gefährliche Ende!“
Die Person lachte auf.
„Stimmt“, gestand sie ein, und ließ die Waffe sinken. „Ich bin ein schlechtes Vorbild für die Kinder.“
„Was machen Sie hier?“, fragte Munira, während sie abwesend ihren Rucksack vorm Boden aufhob und am Griff in der Hand hielt. Irgendwie brachte sie gerade nicht die Energie auf, ihn über die Schulter zu werfen. „Was sind Sie für einer?“
„Tsk, tsk, tsk!“ Die Figur wedelte den golden lackierten Zeigefinger vor Muniras Gesicht. „Du hast gehört, was ich der unfreundlichen Regierungsexekutivperson erklärt habe. Mach nicht die gleichen Fehler wie sie, du hast gesehen, wohin sie führen! Und ich meine nicht friedlich schlafend auf den Boden, sondern in eine Uniform mit einer Waffe, mit der 1 dann Kinder bedroht, um sie in Gefahr zu bringen.“
„Sie hat mich gar nicht damit bedroht.“
„Nicht direkt.“ Die Person machte eine fortwedelnde Handbewegung. „Ist jetzt egal. Ich bin hier, um dir zu helfen. Wir haben entschieden, dass diese Welt wirklich dringend ein bisschen mehr magischen Realismus braucht. Und wir sind entschlossen, ihn ihr zu bringen.“
„‚Wir‘?“, fragte Munira, deren Kopf noch immer ein bisschen weh tat und deren Gehirn darin immer noch ein bisschen zu schnell zu rotieren schien.
„Die Ersten Magi“, antwortete die Figur. „Wir wollen was gegen …“ Sie gestikulierte unbestimmt um sich herum in die Welt hinein, „… diesen ganzen Schlamassel hier unternehmen, und wir wissen noch nicht so genau, was, aber … wie gesagt, wir sind wild entschlossen. Kommst du mit? Wir brauchen früher oder später sicher ein paar Zweite Magi.“
Die Person streckte eine Hand aus, und Munira fiel auf, dass ihre Fingernägel alle in unterschiedlichen Farben glänzten.
Sie zögerte nur kurz, bevor sie die Hand ergriff.

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Ein Kommentar zu “Die Ersten Magi

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