Magnaflux 2


Da sage noch mal jemand, Qualität gehe über Quantität. Nicht hier! Denn hier gibts schon jetzt das zweite Kapitel meiner kleinen Twitter-Silvesteraktion:

„Start des fünfzehnten Versuchslaufs der Quantensprung-Zeitmaschine in Zehn.“

Agata Bednarek streckte die Hände aus und ergriff die Reling, während die Vibrationen der Maschine stärker wurden.

„Neun.“

Das Dröhnen der Maschine wurde schriller und Lauter.

„Acht. Sieben.“

Sie widerstand der Versuchung, die Hände zu falten, während der Nebel der Kühlung aufzusteigen begann.

„Sechs.“

Das Licht flackerte. Sie versuchte, nicht darüber nachzudenken.

„Fünf.“

Vielleicht hätte sie dem Impuls zu beten sogar nachgegeben, aber natürlich wurde der gesamte Verlauf aufgezeichnet, und falls dies der erfolgreiche Versuch war, wollte sie nicht, dass solch eine kindische, stupide Geste Teil ihres Vermächtnisses wurde.

„Vier.“

„Jaaaa…“ presste sie durch zusammengebissene Zähne.

„Drei.“

„Jaaaaa komm schon komm schon kommschon!“

„Zwei.“

Ihr wurde klar, dass sie durch den Nebel sowieso niemand sehen konnte, und beinahe hätte sie die Hände doch noch von der Reling genommen.

„Kacper, wenn du jetzt noch“

„Eins.“

„abbrichst, setze ich dich auf Werks“

„Magnaflux.“

Agata schrie, und wusste nicht genau, ob es Freude und Erleichterung waren, oder das unbeschreiblich irritierende Gefühl, das mit dem Flux ihren ganzen Körper auseinanderzureißen schien. Es war nicht Schmerz, als solches, aber es war sehr unangenehm. Als würde sie gekitzelt, hörte Fingernägel auf einer Tafel und bekäme eine Wurzelbehandlung mit intensiver, aber doch nicht ganz ausreichender Betäubung, während jemand ihr elektrische Schläge versetze und langsam ihre Zehennägel mit einer Zange herauszog. Vielleicht auch unter Betäubung. Oder waren es doch Schmerzen? Was waren schon Schmerzen?

Es schien jedenfalls sehr lange zu dauern.

Wie viel Zeit tatsächlich verging, wusste sie nicht, und sie war sich nicht einmal sicher, ob die Frage überhaupt einen Sinn hatte.

Aber es schien sehr lange zu dauern. Und es schien immer schlimmer zu werden. Bis sie irgendwann das Bewusstsein verlor. Oder den Verstand. Oder ihr Zeitgefühl. Oder jedenfalls irgendetwas.

Für einen Herzschlag eine Minute eine Stunde einen Tag fragte sie sich kurz, ob sie gerade im Begriff war, zu sterben. Vielleicht war das Experiment ja doch wieder fehlgeschlagen, nur anders. Die Sicherheitsmargen waren bestimmt nicht ohne Grund da.

Agata war sich nicht sicher, ob sie es aufrichtig bereuen würde, jetzt zu sterben. Immerhin hatte sie es versucht.

Aber sie würde zumindest sehr bedauern, die Vollendung von Projekt Magnaflux nicht mehr zu erleben, denn sie war sich völlig sicher, sehr sehr nah dran zu sein.

Sie hoffte, dass sie nicht starb.

Sie wollte noch weiterleben, dachte sie.

Und verschwand.

***********************

„Heinrich? Heinrich?? Alles okay?“

Agata … saß … auf einem Stuhl? Ihre Hände … lagen auf … Reglern? Sie trug … Kopfhörer? Und hörte dadurch dumpf eine Stimme? Was…?

„Ey hast du ein Gespenst gesehen, oder was? Bist du noch da??“

Jemand wedelte eine Hand vor ihrem Gesicht auf und ab.

„Was?“ fragte sie.

Sie blinzelte. Was war das? Saß sie … an einem Tonpult? In einem Studio?

„Du warst gerade völlig weggetreten. Ist alles okay bei dir?“

In einem sehr alten Studio, mit richtigen Schiebereglern und … Bildschirmen?

Es hatte funktioniert.

„Ja…“ murmelte sie, und versuchte, ein begeistertes Glucksen zu unterdrücken. Es hatte funktioniert! Sie war durch den Magnaflux getreten und war jetzt in einer anderen Zeit! „Ja, geht schon. Weiß auch nicht. Tut mir leid. Ich hab … an was gedacht. Kann ich kurz Pause machen?“

„Klar, kein Problem. Aber ist wirklich alles in Ordnung? Soll ich einen Arzt rufen? Brauchst du irgendwas?“

„Nein, wirklich, alles gut, ich brauch nur ne kurze Pause, vielleicht einen Kaffee.“

Sie hatte natürlich keine Ahnung, wo es hier Kaffee gab. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Aber das schien ihr gerade kein völlig unüberwindliches Problem. Sie war durch die Zeit gereist. Sie würde es schaffen, irgendwo Kaffee aufzutreiben. Oder so zu tun, als hätte sie Kaffee aufgetrieben. Das würde ja auch reichen.

Sie stand auf, und es ging erstaunlich gut. Kein Schwindel. Keine Schwäche. Nur eine leichte Desorientierung und Distanz zu diesem Körper.

„Bist du sicher…?“ fragte der junge Mann mit dem Basecap und dem Sechstagebart noch einmal, und sie ließ ihn den Satz nicht zu Ende bringen.

„Ja, wirklich, mach dir keine Gedanken. Ich bin gleich wieder da, ja?“

„Okay. Ich warte. Ruf solange mal Omi an, hab ich zu lange nicht mehr.“

Sie zeigte ihm eine Daumen-Hoch-Geste und verließ den Kontrollraum des Studios. Draußen fand sie einen Flur mit vier Türen vor, von denen sie sich willkürlich die sympathischste heraussuchte. Sie fand dahinter eine Art Aufenthaltsraum mit Sofas, Sesseln und Wasserkaraffen, in denen diese überflüssigen kleinen Obstschnitzel schwammen, die offenbar als symbolische Gesten anspruchsvoller Gastfreundlichkeit in hinreichend prätentiösen Umfeldern obligat waren.

Schulterzuckend schloss sie die Tür hinter sich. Gut genug. Kaffee war optional.

Sie atmete tief durch, rieb sich die Augen, sah sich um, betrachtete den Raum, und ihre eigenen Arme und Hände, und

„Ich weiß jetzt gar nicht, ob ich Sie ohrfeigen oder umarmen soll“, hörte sie plötzlich General Shaws Stimme hinter sich, „Aber da ich beides nicht kann, ist die Frage ohnehin rein akademisch und damit nicht mein Feld.“

Sie wirbelte herum und sah – natürlich – General Shaw vor sich. Oder genauer, eine Reproduktion von ihr.

„Wie sind Sie so schnell in die Bilderkammer gekommen?“ fragte sie. „Sie wollten doch nach Hause, und …?“

Shaw lächelte wie die Katze, die den Schlüssel zum Vogelkäfig gefunden hat.

„Halten Sie sich für sehr unberechenbar, ja?“

Kurz musste Agata nachdenken. Dann verstand sie.

Sie fand, dass sie wütend sein sollte, weil Shaw sie manipuliert und ausgenutzt hatte, aber die Freude und schiere Fassungslosigkeit über den eigenen Erfolg verdarb ihr den Ärger, und so konnte sie nur grinsend sagen:

„Sie Biest!“

„Ich konnte schlecht selbst das Risiko eingehen, die Sicherheitsvorschriften zu umgehen, das verstehen Sie doch sicher.“

„Sie wissen schon, dass das alles immer noch aufgezeichnet wird?“ fragte Agata, und auch wenn sie keine echte Wut aufbrachte, konnte sie zumindest Genugtuung empfinden über den kleinen Triumph.

Kurz.

„Ich habe eine kleine Sondervereinbarung mit Kacper geschlossen, was das angeht“, sagte General Shaw. „Aber Sie haben recht. Lassen Sie uns bei der Sache bleiben und unsere persönlichen Befindlichkeiten später diskutieren.“

Agata atmete noch einmal tief durch, ließ sich in einen der Sessel fallen – plötzlich fühlte sie sich doch müde – und erwiderte:

„Kommt mir sehr entgegen. Wo bin ich? Wir hatten doch eigentlich ein anderes Ziel eingestellt als … was immer das hier ist?“

Shaw nickte, jetzt wieder ganz kühl und sachlich.

„Tatsächlich. Sie werden sich vorstellen können, dass das Militär Ihr kleines Projekt nicht zum reinen Erkenntnisgewinn finanziert hat. Wir planen gewisse Anpassungen in der Welt, und dies ist die erste davon.“

„Anpassungen? Soll ich mehr Musik in die Welt bringen?“

Shaw erlaubte sich ein weiteres kleines Lächeln.

„Keineswegs, Dr. Bednarek. Im Gegenteil. Sie sollen Musik aus der Welt herausnehmen.“

„Was?“

„Wir haben Ihnen für diesen Sprung ein sehr übersichtliches Ziel vorbereitet, das Sie keinesfalls überfordern dürfte, der Welt aber einen großen Dienst leisten wird.“

Agata lachte.

„Was soll ich tun? Soll ich Notenblätter verbrennen?“

Shaw schüttelte den Kopf, und für einen Moment dachte Agata, sogar so etwas wie echtes Bedauern in ihrer Miene zu sehen.

„So einfach ist es auch wieder nicht“, sagte die Generalin. „Sie sind hier, um Christian Weirich zu töten.“

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